Sachbuch

Burgen, Harald Schmidt und die DDR

Zeitgeschichtliches Großereignis: Der Mauerfall in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989
Zeitgeschichtliches Großereignis: Der Mauerfall in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 © picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini
Von Irene Binal · 10.04.2014
In mehreren Aufsätzen untersucht der Historiker Martin Sabrow das Phänomen Zeitgeschichte. Mit viel Lust an der Sprachakrobatik entwirft er das Bild einer Wissenschaft, die sich ständig verändert.
Welchen Platz nimmt Zeitgeschichte heute ein? Welchen Einflüssen ist sie unterworfen? Wie hat sich ihre Deutung verändert? Und was genau ist darunter eigentlich zu verstehen? Diesen Fragen geht der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, Martin Sabrow, nach - in einem Buch, das sich die wissenschaftliche Untersuchung einer Wissenschaft zur Aufgabe gemacht hat.
Dabei wird das Phänomen "Zeitgeschichte" zu einem erstaunlich beweglichen Begriff mit ungeahnten Facetten und Spielarten. In einzelnen Aufsätzen durchleuchtet Sabrow die Funktion der zeitgeschichtlichen Forschung als Legitimationsressource am Beispiel der ehemaligen DDR; er befasst sich mit Autobiografien und zeigt, wie Umbruchsmemoiren die Vergangenheit und die eigene Erinnerung umformen können. Er denkt über Zäsuren und ihre Bedeutung für die zeitgeschichtliche Forschung nach; er untersucht die Funktion von Zeitzeugen und den Gegensatz zwischen Vergangenheitsbewältigung und Vergangenheitsaufarbeitung. Er reflektiert die zunehmende Beschleunigung der Zeit und die Annäherung an einen historischen Ort, den "Raum der Erinnerung", der sich immer mehr zu entziehen scheint, je näher man ihm kommt:
Keine leichte Lektüre
"Es ähnelt dem Phänomen der zum Aufstieg lockenden Burg, deren Zauber verfliegt, sobald man sie erreicht hat. Was am Horizont die geheimnisvolle Entführung ins Mittelalter versprach, entpuppt sich beim Näherkommen als leerer Innenhof mit Grillstelle..."
Leichte Lektüre ist das allerdings nicht.
"Die besondere Sehepunkt-Abhängigkeit der Zeitgeschichte tangiert ihren Wahrheitsanspruch stärker als den anderer Disziplinen." Sätze wie diese zeugen von Sabrows Lust an Sprachakrobatik, begrenzen aber auch den potentiellen Leserkreis. Sabrow will nicht unterhalten, sondern das Phänomen Zeitgeschichte einer wissenschaftlichen Reflexion unterwerfen. Und das tut er in einer Sprache, die so kunstvoll und gewandt ist, dass sie manchmal wie ein Labyrinth erscheint - allerdings eines, in dem man sich auch mal genussvoll verlaufen kann.
Politische Einflussnahmen auf die Geschichtsschreibung
Andererseits kann er auch witzig und unterhaltsam sein, wenn er etwa Harald Schmidt und Oliver Pocher zu Wort kommen lässt, um die Rezeption der zeitgeschichtlichen Meistererzählung zu verdeutlichen. Oder wenn er sich mit dem Einfluss der Politik auf die zeitgeschichtliche Forschung in der DDR befasst und erzählt, wie sich das Zentralinstitut für Geschichte verzweifelt bemühte, im Jahresbericht einen Fortschritt zu benennen, den es aufgrund des politischen Korsetts gar nicht geben konnte.
So entsteht das Bild einer Wissenschaft, deren Rahmenbedingungen sich immer wieder verändern - sei es durch politische Einflussnahme wie in der ehemaligen DDR, sei es durch Ereignisse wie den Mauerfall oder die Anschläge vom 11. September - und deren Ausformung und Definition entsprechend schwer greifbar scheinen. Schon die Frage, welchen Zeitraum Zeitgeschichte eigentlich umfasst, ist nicht mit einem Satz zu beantworten. Und Martin Sabrow geht noch einen Schritt weiter und stellt selbst den Terminus "Zeitgeschichte" auf den Prüfstand:
"'Zeitgeschichte' ist eigentlich ein Unwort und nicht mehr als eine sprachliche Leerformel."
Seine Aufsätze zum Thema sind freilich alles andere als das.

Martin Sabrow: Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart
Wallstein Verlag, Göttingen, 2014
24,90 Euro, 296 Seiten

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