Sabrow weist Vorwurf der Weichzeichnung des SED-Unrechts zurück

Moderation: Gabi Wuttke · 16.05.2006
Der Leiter der Expertenkommission zur Aufarbeitung des SED-Unrechts, Martin Sabrow, hat den Vorwurf, ein Weichzeichner der SED-Diktatur zu sein, als "absurd" zurückgewiesen. Er beschäftige sich im Wesentlichen mit dem Diktaturvergleich zwischen Nationalsozialismus und DDR. Es gehe aber auch darum, späteren Generationen die Widersprüchlichkeit der DDR aufzuzeigen: Die Gesellschaft lasse sich im bloßen Täter-Opfer-Verhältnis nur unzureichend abbilden, sagte er am Dienstag im Deutschlandradio Kultur.
Gabi Wuttke: Die Kommission erarbeitete Vorschläge für die künftige Aufarbeitung der DDR-Geschichte unter Federführung des Bundes. Einen "Denkbaustein für die weitere Meinungsbildung" hat Kulturstaatsminister Neumann sie genannt. Der Leiter der Kommission, Martin Sabrow, zudem Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, ist jetzt im Studio. Guten Morgen, Herr Sabrow.

Martin Sabrow: Guten Morgen, Frau Wuttke.

Wuttke: Sie sind gestern vom Vertreter des Bundes, dem Abteilungsleiter für Kultur und Medien, im Kanzleramt, Hermann Schäfer, arg angegangen worden. Waren Sie darauf vorbereitet, dass er auf der Seite derer steht, ganz offensichtlich, die weiter vorrangig den Unrechtsstaat DDR als politisches Bild vermitteln wollen?

Sabrow: Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir aus den Äußerungen von Herrn Schäfer eine eigene Position erkennen müssen, wie es die Presse heute zum Teil ja auch tut. Nein, ich war nicht darauf vorbereitet, aber ich war auch gar nicht so sehr enttäuscht darüber, denn ich finde unsere Empfehlungen sind tatsächlich ein Denkanstoß und sie sollen das sein. Ob man gestern auf der Pressekonferenz bereits diesen Denkanstoß als anstößig hätte diskutieren sollen oder nicht, mag eine Geschmacksfrage sein, aber ich finde, dass es kein schlechter Zeitpunkt ist, sofort in eine inhaltliche Diskussion einzusteigen. Das hat die Expertenkommission gewollt und ich glaube, das hat die Expertenkommission auch sehr schnell erreicht.

Wuttke: Wie haben Sie denn verstanden, was Herr Schäfer gestern zu kritisieren hatte?

Sabrow: Herr Schäfer hat dreizehn Punkte, wenn ich sein Stakkato gut genug mitbekommen habe, hat dreizehn Punkte angemerkt, bei denen er nicht sofort überzeugt war oder Widersprüche im Papier sah, oder tatsächlich eine andere Position einnahm. Darunter war zum Beispiel die Frage, wie es denn denkbar ist, dass das Fachinteresse an der DDR-Aufarbeitung immer noch wächst, aber in schulischen Lehrplänen, dass die Beschäftigung mit der DDR gerade zurückgeht. Das ist in der Tat auch ein Punkt, der uns interessiert und auf den wir antworten wollten.

Eine zweite Bemerkung von Herrn Schäfer richtete sich auf die Frage, warum die Universitäten und die zeitgeschichtlichen Lehrstühle in unserem Papier nicht vorkommen. Und das konnten wir klar beantworten und haben es in dem Papier auch angedeutet. Hier ging es nicht um die Wissenschaft selbst, sondern um die Formen der öffentlichen Aufarbeitung. Dass die akademische und auch die außeruniversitäre Zeitgeschichtsforschung ihrerseits der Unterstützung bedarf, ist selbstverständlich, aber das kann keine Kommission unter meinem Vorsitz bearbeiten, denn da wäre ich ja selbst befangen, weil ich in der Tat selbst ein zeitgeschichtliches Institut leite und am Anfang unserer Beratungen auch die Forderungen aufgestellt habe, dass nichts thematisiert wird, was in diesen eigenen Bereich schlägt, weil ich eben nicht in eigener Sache urteilen kann und möchte.

Wuttke: Diese Vorschläge sind ja vor der Zeit bekannt geworden und seitdem werden sie heftig diskutiert und Ihre Vorschläge wurden auch heftig kritisiert. Wage ich mich da zu weit aus dem Fenster, wenn ich Sie frage, ob die Kritik im Vorfeld auch dazu geführt hat, dass diese Pressekonferenz gestern so heftig vonstatten ging?

Sabrow: Ja, das ist eine Frage, die spätere Historiker vielleicht besser entscheiden können, als die teilnehmenden Akteure. Es mag so sein. Und in der Tat geht es auch um große Fragen. Eine halbe Generation nach dem Ende der DDR und dem Zusammenbruch des Kommunismus stellen wir uns in Deutschland und nicht nur für Deutschland die Frage, wie es mit dem Gedenken und der Auseinandersetzung mit der zweiten Diktatur in Deutschland weitergehen soll.

Und Sie wissen, dass dort vieles hineinspielt: die Teilung der deutschen Gesellschaft in einen Ost- und einen Westteil, die Frage der NS-Belastung und ihrer Aufarbeitung. Es sind viele Fragen involviert. Es sind auch Fragen von Institutionen, Personen und deren Perspektiven darin einbezogen und natürlich führt das zu harschen Reaktionen, das wundert mich in keiner Weise und ich bin mir sicher, dass sich mit der Zeit dann auch die Ratio und die Plausibilität der Empfehlungen durchsetzen wird und auch die begründete Kritik an ihnen. Denn wir meinen natürlich selbst, dass wir Empfehlungen geliefert haben, die die weitere Debatte anstoßen sollen. Wir meinen nicht, für sie einen Endpunkt definiert zu haben.

Wuttke: Schauen wir mal auf die Seite der Kritiker. Einer von ihnen nannte Sie einen "Weichzeichner der SED-Diktatur". Das ist nun ein ziemlich harter Vorwurf, der in der FAZ geäußert wurde. Lassen Sie mich jetzt ein Wörtchen aufgreifen, das ich gelesen habe, auch in Ihrem Konzept steht, dass es auch darum gehen muss, Nischenglück in die Aufarbeitung der DDR-Geschichte mit einzubauen und zu vermitteln. Wem meinen Sie erklären zu müssen, dass es in der DDR auch Glück gab?

Sabrow: Die Frage der Weichzeichnung und des Nischenglücks, das sind glaube ich doch nicht ganz deckungsgleiche Aspekte. Zuerst allerdings zu dem Begriff des Weichzeichnens, das ist eine schnell geprägte Münze und ein völlig absurder Vorwurf gegenüber einem Historiker, der sich im Wesentlichen mit dem Diktaturvergleich beschäftigt, also dem Vergleich zwischen Nationalsozialismus und DDR.

Was wir meinen ist, dass die Widersprüchlichkeit der DDR-Gesellschaft miteinbezogen werden muss und dass es unabdingbar ist, die repressiven, teils terroristischen Prägungen dieses Staates zu erörtern, zu definieren, die Kosten, die Opfer zu benennen, die dieses System hervorgebracht hat, das Glück, das es zerstört hat. All dieses muss benannt werden und wir müssen gleichzeitig einen Blick auf eine DDR-Gesellschaft werfen können, die in dieser Repression nicht aufging, sondern Bindungskräfte entwickelte, und das haben wir gestern auch auf der Pressekonferenz diskutiert, und Bindungskräfte entwickelte, die sich im Täter-Opfer-Verhältnis nicht abbilden lassen oder nur unzureichend abbilden lassen. Und wir müssen das tun, um einer späteren Generation, die keine Erlebnisgeneration mehr ist, einen Eindruck zu vermitteln, von den tatsächlichen Wirkungskräften dieses katastrophischen 20. Jahrhunderts, das von zwei großen Diktaturen in Deutschland und nicht nur in Deutschland gekennzeichnet war.

Und in diesem Kontext haben wir in dem Papier definiert: Die Bindungskräfte einer Gesellschaft oder ihr Hin- und Hergeworfensein, wie es die Fachwissenschaft als Instrument zur Erkenntnis bereitstellt, und darin spielt Trauer und Unterwerfung, Terror und Einschüchterung ebenso eine Rolle, wie auch Begeisterung für das kommunistische Projekt, selbst in seiner terroristischsten, stalinistischen Phase, da spielt missmutige Loyalität eine Rolle. Es spielt das eine Rolle, was wir in der Wissenschaft den Eigensinn nennen, also die Umformung der Regimezumutungen im Alltag der Lebenswelt dieser Gesellschaft.

Und dort gibt es auch die Frage, ob nicht die Idee eines Nischenglücks scheinbar oder tatsächlich realisiert werden konnte, oder sollte, ob nicht die Hoffnung auf die Nische ein Stück weit die DDR am Leben erhielt. Denn, wenn ich das noch sagen darf, am Ende müssen wir erklären, warum eine derart ungeliebte Diktatur so lange, so scheinstabil oder tatsächlich stabil hat existieren können. Und das lässt sich nicht ohne die Ummauerung erklären der Gesellschaft, nicht ohne die Sowjetunion und ihre repressive Kraft. Aber diese beiden Erklärungsmuster alleine reichen nicht. Und es reicht auch nicht zu sagen, dass die Überwachung immer stärker geworden ist, denn am Ende der sehr stark gewordenen Überwachung ist dieser Staat auf eine sehr plötzliche Weise zusammengebrochen, weder von West noch von Ost so vorhergesehen.

Wuttke: Lassen Sie uns noch zum Schluss unseres Gespräches auf eine ganz zentralen Punkt kommen, nämlich auf die Stasiunterlagenbehörde. Ihren Vorstellungen nach sollen die Akten ins Bundesarchiv, das Amt mit zwei Berliner Gedenkstätten verflochten werden. Dreh- und Angelpunkt immer der Aufarbeitung der DDR-Geschichte war ja diese Stasi-Unterlagenbehörde, die wir jetzt auch gemeinhin Birthler-Behörde nennen. Nun hat der Kulturstaatsminister gestern angekündigt, er wolle nicht, dass die Akten Ende des Jahres geschlossen werden. Hat Sie diese Ankündigung überrascht als Reaktion oder als Vorlauf auf ihr Konzept?

Sabrow: Nein, nein. Und ich bin auch gar nicht sicher, ob die Reaktion von Herrn Neumann jetzt mit unserem Konzept in irgendeiner Verbindung steht. Herr Neumann hat sich über die in diesem Jahr, am Ende dieses Jahres endende Regelanfrage im öffentlichen Dienst geäußert und die Frage formuliert oder sogar die Hoffnung ausgesprochen, dass diese Regelanfrage sich noch weiter verlängern würde. Das war nicht der Aspekt, der in unserem Votum eine Rolle spielt. Wir sind davon ausgegangen, dass sich die Kernaufgaben der BStU in einer Reihen von Jahren erledigt haben werden und das sind auch die Anträge auf persönliche Einsichtnahme, die an allererster Stelle. Und damit auch die Möglichkeiten eines archivrechtlichen Zuganges, der nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz für lange Zeit deutlich besser war, als er nach dem Bundesarchivgesetz sein würde.

Wuttke: Aber man sprach schon das Wort Abwicklung aus.

Sabrow: Ja aber nicht wir. Ganz im Gegenteil, ich lege größten Wert darauf, zu sagen, dass wir einen Zeitpunkt, an dem Birthler-Behörde ihre Aufgabe erfüllt haben wird, nicht absehen können. Historiker sind rückwärts gewandte Propheten, wie Friedrich Schlegel sagt, und nicht in die Zukunft gerichtet.

Wenn aber die öffentliche politische Selbstverständigung diesen Eindruck haben wird, dass die Birthler-Behörde in ihrer jetzigen Stärke nicht mehr nötig ist, weil die Kernaufgaben des Stasi-Unterlagen-Gesetzes erledigt sind, dann darf nicht passieren, dass diese Behörde ersatzlos gestrichen wird, sondern das Votum schlägt vor, dass zwei Komplexe auf jeden Fall in die Zukunft übernommen werden müssen. Der eine Komplex ist der Symbolwert der Gauck-Birthler-Behörde als Ausdruck der friedlichen Revolution und der Öffnung von Akten in einem geradezu unerhörten Vorgang 1989, 1990. Und das Andere ist die Fachkompetenz dieser Behörde in ihrer Abteilung Bildung und Forschung.

Dieses wollen wir retten und verbinden mit einem Dokumentationszentrum, mit Aufgaben der politischen Vermittlung und dies in Zusammenarbeit, Koordination, Unterstellung, Verflechtung mit den beiden Gedenkstätten, die Sie genannt haben, also Hohenschönhausen und das Haus 1 in der Normannenstraße.

Wuttke: Geschichtsverbundaufarbeitung der SED-Diktatur. Über die Expertenempfehlung und die Kritik daran, Martin Sabrow, der Vorsitzende der Kommission, hier zu Gast im Studio. Vielen Dank, Herr Sabrow.
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