Rutger Bregman: "Utopien für Realisten"

Das Plädoyer ist ein Weckruf

Von Jörg Himmelreich  · 28.08.2017
Angesichts des verbreiteten Wohlstands fehlt die Kraft zur Veränderung, beklagt der Autor Rutger Bregmann. Er nennt die Schwächen des Kapitalismus und plädiert für ein universelles Grundeinkommen.
"Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien". Dieser Aphorismus Oscar Wildes ist das Leitmotiv für das leidenschaftliche Plädoyer von Rutger Bregman für ein universelles Grundeinkommen, für eine Arbeitszeitverkürzung auf eine 15-Stunden-Woche und für eine Ausrottung der Armut. Eine Utopie? Zweifelsohne, aber historisch erschienen alle Reformen zu Beginn aus der Sicht der Zeitgenossen als Utopie, von der 40 -Stunden-Woche bis hin zum Frauenwahlrecht.

Appell an die moralische Verpflichtung

Zu Beginn konstatiert Bergman einen nie dagewesenen weltweiten Wohlstand, den sich niemand zuvor vorzustellen vermochte. Selbst die unter der Armutsgrenze der Weltbank lebenden indischen Landarbeiter hätten ein Lebensniveau wie nie zuvor, so zynisch sich das auch anhört. Mit diesem Wohlstand sei der Welt heute die Fähigkeit abhanden gekommen, Utopien denken zu können; und damit auch die Kraft zur Veränderung. Aber gerade weil die westliche Welt in einem solch historisch einmaligen Überfluss lebe, in dem fast alle früheren Utopien eines Schlaraffenlandes Wirklichkeit geworden seien, habe sie eine moralische Verpflichtung, die noch vorhandene Armut in der Dritten Welt und die noch wachsende weltweite Ungleichheit zu verringern.

Kontrast zur täglichen Wut

Das Plädoyer ist ein Weckruf, wieder zu wagen, Utopien zu denken. Als optimistischen Kontrast zu der täglichen Wut der ewig gestrigen Populisten im Westen ist das durchaus einnehmend. Um zu belegen, dass seine Utopien für Realisten sind, entfacht Bregman ein wahres Feuerwerk von historischen Parallelen, von Erkenntnissen der Klassiker der Nationalökonomie, wie John Stuart Mill, John Maynard Keynes und Milton Friedmann, bis hin zu Studien zur Entwicklungshilfe.

Die Misstände kann nur die Gesellschaft ändern

Entschieden benennt Bregman die Schwächen des Kapitalismus, etwa die wachsende Ungleichheit der Einkommen, dessen Höhe sich nur nach Angebot und Nachfrage richtet und nicht nach dem inhaltlichen Wert der Arbeit. Der Kapitalismus könne so nicht die beiden globalen Hauptprobleme des 21. Jahrhunderts lösen, nämlich durch die Digitalisierung industrieller Arbeit immer mehr Freizeit zur Verfügung zu haben und, zweitens, die wachsende Kluft von Armut und Reichtum innerhalb des Westens, aber auch im Verhältnis zur Dritten Welt. Diese Missstände könne nur die Gesellschaft selbst ändern, indem jeder einzelne sein Leben und dessen Inhalte neu auf diese beiden Herausforderungen ausrichte.

Abbau der Grenzen

Dazu gehöre es, sich nicht länger über die Höhe des Einkommens und die Länge der Arbeitszeit zu definieren, sondern mit Hilfe eines universellen Grundeinkommens seine Arbeitszeit zu verkürzen und wieder zu lernen, seine Freizeit zu gestalten. Die Armut in der Dritten Welt wäre provozierend einfach zu lösen: durch einen Abbau der Grenzen weltweite Migration zuzulassen. Denn eine Öffnung der Grenzen für Arbeitskräfte würde den globalen Wohlstand um fünfundsechzig Billionen Dollar erhöhen. Die dargestellten Utopien ziehen den Leser, die Leserin in ihren Bann, selbst wenn sie nicht – wie der Buchtitel verspricht – für Realisten sind, sondern eher wohl doch für Utopisten.

Rutger Bregman: "Utopien für Realisten"
Übersetzt von Stephan Gebauer
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017
320 Seiten, 18 Euro

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