Rekrutierung in Russland

Wie die Suche nach Soldaten verläuft

23:23 Minuten
Zu sehen ist ein Mann in Militäruniform mit Schlafsack und Gepäck das mit Tape in den Farben der russischen Flagge zusammengeklebt wurde.
Rekrutierung von Reservisten in Moskau: „Das ist keine Teilmobilmachung, sondern schlichtweg eine Mobilmachung“, sagt der russische Bürgerrechtler Sergej Kriwenko. © Getty Images / Anadolu Agency
Von Gesine Dornblüth, Tatjana Montik, Andre Zantow · 17.10.2022
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Russlands Rekrutierung von Reservisten soll laut Präsident Putin innerhalb der nächsten zwei Wochen enden. Mehr als 222.000 sollen es inzwischen sein. Recherchen zeigen, dass vor allem Männer aus den armen Regionen in die Ukraine geschickt werden.
Fast vier Wochen sind seit der Ankündigung der „Teilmobilmachung“ von Russlands Machthaber Wladimir Putin am 21. September vergangen. Bisher sind offiziell 222.000 Reservisten einberufen worden. Darunter auch Gastarbeiter und überproportional viele Männer aus ärmeren Regionen der Russischen Föderation.
Vermutlich ist die Anzahl sogar größer, sagt Sergej Kriwenko von der russischen Menschenrechtsgruppe „Bürger, Armee, Recht“ im Youtube-Kanal von TV Doschd:
„Das ist keine Teilmobilmachung, sondern schlichtweg eine Mobilmachung. Was der Verteidigungsminister gesagt hat, das ganze Gerede von den 300.000 und dass das nur ein Prozent aller Reservisten seien, haben wir von Anfang an als einen Fake betrachtet. Als einen Versuch, die Bevölkerung zu beruhigen, in der Art: Euch betrifft das nicht. Aber wir sehen ja jetzt, dass praktisch jeder einberufen werden kann.“

Sohn des Kremlsprechers will nicht in den Krieg

Auch in den großen Städten wie Moskau und St. Petersburg sollen jetzt jüngere Männer vor U-Bahnhöfen für die Einberufung angesprochen worden sein. Allerdings gibt es Ausnahmen, was Gerechtigkeitsfragen aufwirft.
Für viel Aufregung im Internet sorgte ein Anruf bei dem Sohn von Kremlsprecher Dmitrij Peskow. Ein Aktivist aus dem Netzwerk des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny gab sich als Beamter der Einberufungsstelle aus.
Er wollte Nikolaj Peskow am nächsten Tag einbestellen, woraufhin der antwortete: „Morgen um 10 Uhr komme ich ganz sicher nicht. Wenn Sie wissen, dass ich Herr Peskow bin, dann ist das nicht so ganz richtig, dass ich da hinkommen soll. Aber ich werde das auf anderer Ebene entscheiden.“

Zehntausende Russen nach Georgien geflüchtet

Wer als junger Mann keine Verbindungen in die Politik hat und nicht in den Krieg will, muss flüchten. Das haben Zehntausende schon getan. Vor allem nach Kasachstan und Georgien, wo sie keine Visa benötigen.
Offiziellen Angaben zufolge befinden sich in Georgien derzeit bis zu 70.000 Russen, die keine Touristen sind, sondern länger bleiben wollen, wie Michail.
„Ich wollte keine Gebiete erobern. Man hat alles für mich entschieden. Ich habe in Ruhe mein Leben gelebt, ich bin Geschäftsmann. Und plötzlich machte man auf uns Druck: Wir sollen an die Front! Ich musste mein Leben retten“, sagt er.

Meine Familie war schrecklich besorgt um mich, meine Eltern haben geweint, sie machten sich Sorgen, dass man mich holen kommt, um später – wie es derzeit üblich ist – meine eingepackte Leiche zu Hause anzuliefern. Deshalb waren die Eltern erleichtert, als ich die Grenze passiert hatte.

Michail

Demos in Tiflis für die Ukraine

Andere Männer wie der 38-jährige Artjom aus der südrussischen Stadt Krasnodar ernteten Kritik aus ihren Familien nach der Entscheidung, ins Nachbarland Georgien zu flüchten.
„Vorgestern rief mich meine Großmutter an und sagte: ‚Du hast einmal Armeeuniform getragen. Also wirst du die Schande dieser Flucht nicht mehr reinwaschen können. Der beste Tod für einen Mann ist ein Tod auf dem Schlachtfeld‘“, erzählt er. „Das hat mir meine leibliche Großmutter gesagt! Stellen Sie sich vor, was in den Köpfen unserer Menschen los ist!“
Dass jetzt so viele Russen nach Georgien geflüchtet sind, gefällt nicht allen. Schließlich hat Russland mit Südossetien und Abchasien rund 20 Prozent Georgiens besetzt. Und viele Georgier werfen den russischen Flüchtlingen vor, in Georgien ein bequemes Leben zu suchen, anstatt mutig in ihrer Heimat gegen die Regierung zu kämpfen.
Vor dem Parlamentsgebäude stehen etwa einhundert Menschen mit großen Plakaten, auf denen zum Beispiel steht, dass Russland ein Terror-Staat ist.
Vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis demonstrieren am 10. Oktober Georgier, Belarussen und Russen gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine.© Deutschlandradio / Tatjana Montik
Auch deshalb geht der 41-jährige Ilja, der seit einem Jahr in Georgien lebt, regelmäßig auf Demonstrationen in Tiflis gegen den Krieg.
„Auch wenn ich Russe bin, weiß ich, dass die Regierung meines Landes Unzulässiges macht. Ich kam zu dieser Demo, um die Ukraine zu unterstützen und ich werde das weiter so machen“, sagt er.

Ich weiß, dass viele Georgier danach verlangen, dass wir hier eigene Demos gegen diesen Krieg organisieren. Ich glaube, dass wir dazu noch nicht bereit sind. Denn die meisten von uns, die Neudazugekommenen, brauchen Zeit, um zu verstehen, dass wir hier demonstrieren können, ohne von den Polizisten auf die Erde geworfen und mit den Stiefeln getreten zu werden. In unserer Heimat wird jede Art Protest mit Gewalt niedergeschlagen.

Ilja

Ansehen von Russlands Armee schwankt

Politikanalyst Anton Barbashin, Chefredakteur der Website „Riddle Russia“ erinnert daran, dass die russische Armee schon öfter mit Reputationsverlusten zu kämpfen hatte. In den 1980er-Jahren durch die Niederlage im Afghanistankrieg.
Deshalb hätten in den 80ern und 90ern viele Männer versucht, sich der Einberufung zu entziehen. Das war oft mit Geld und Korruption verbunden, um die Wehrpflicht zu umgehen: „Die Armee wurde als Strafe angesehen.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges sei die Armee immer als etwas dargestellt worden, auf das man stolz sein könne. Seit etwa 2010 sei wieder mehr Geld in die Öffentlichkeitsarbeit investiert worden, um zu zeigen, wie modern die russische Armee ausgerüstet sei.
„Dann kam der Syrienkrieg, wo die russischen Truppen als sehr erfolgreich dargestellt wurden – mit Präzisionsschlägen. 2014 mit der Annektion der Krim sah es sogar noch besser aus. Es war eine hochprofessionelle Armee, war zumindest das Image.“
Die Realität im Krieg in der Ukraine zeigt nun ein anderes Bild der russischen Armee, das sich auch zunehmend im Land verbreitet.

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