Russland

Die ausgeblendete Vergangenheit

Von Jörg Plath · 16.01.2014
Warlam Schalamow lieferte durch seine "Erzählungen aus Kolyma" ein ähnlich eindringliches Zeugnis des Gulags wie Alexander Solschenizyn. Der Band "Das vierte Wologda" versammelt nun autobiografische Texte und Kindheitserinnerungen.
Nach seiner Entlassung 1951 aus dem Archipel Gulag ringt Warlam Schalamow weiter mit der Welt der Lager. Er trotzt ihr ab, was sie ihm verwehrte: ein Dasein als Schriftsteller, eine eigene Sprache, Individualität. Von 1953 bis 1973 schreibt er an den "Erzählungen aus Kolyma", die erst Ende der 1980er-Jahre, nach dem Tod des Autors, in der Sowjetunion publiziert werden dürfen. Sie sind eine kaum erträgliche Kunde aus einer Welt, die mit der menschlichen nichts zu tun haben scheint. Man muss sie lesen als zweiten Flügel eines Kompendiums über den "Pol der Grausamkeit" und den Bankrott der Humanität, deren ersten über die nationalsozialistischen Vernichtungslager Imre Kertész, Primo Levi, Jean Améry und Tadeusz Borowski geschaffen haben.
1968 besucht Irina Sirotinskaja, Mitarbeiterin des Zentralen Literaturarchivs, auf einem Betriebsausflug Wologda und schreibt ihrem Geliebten Schalamow aus seiner Geburtsstadt. Er antwortet ihr, er habe die Stadt seiner Kindheit nach der Beerdigung der Mutter 1934 aus seinem Leben "ausgeblendet", verspüre nun aber eine "Art warmer Unterströmung". Erinnerungen an Kindheit und Jugend tauchen auf, und Schalamow beginnt sie aufzuschreiben.
Nach dem Rückblick "Das vierte Wologda" ist der fünfte Band der verdienstvollen Schalamow-Ausgabe benannt. Er enthält außerdem zwei autobiografische Erzählungen sowie "Mein Leben – meine verschiedenen Leben", autobiografische Texte über die literarische und intellektuelle Szene der 1920er- und 1930er-Jahre, zusammengestellt von Irina Sirotinskaja, der Geliebten, Vertrauten und Herausgeberin der russischen Werkausgabe.
Erinnerungen wie unter einem Glassturz
Anders als die wie gemeißelt wirkenden Gulag-Erzählungen sind die zu Lebzeiten unveröffentlichten autobiografischen Texte unfertig. Schalamow scheint sie in Schüben hingeworfen und dann liegengelassen zu haben. Farbige Berichte über Konflikte zwischen den Akmeisten, den Blauen Blusen, dem LEF-Kreis, den Konstruktivisten und den vielen anderen Gruppierungen stehen neben etwas mühsamen Passagen, eindrucksvolle Schilderungen der Rededuelle zwischen dem Volkskommissar Anatoli Lunartschinskij und dem späteren Metropoliten Alexander Wwedenski über Politik und Religion, denen Schalamow gut 30 mal lauschte, neben blassen Anekdoten. Die meisten der genannten Dichter und Intellektuellen waren in den 1960er-Jahren verfemt oder ermordet.
Stärker durchgearbeitet ist "Das vierte Wologda", das der Autor nach dem ersten der Geschichte, dem zweiten der Provinzhauptstadt und dem dritten der Verbannung selbstbewusst als das seine bezeichnet. Eingehend porträtiert Schalamow den unbeugsamen Vater, einen weltlich gesonnenen Popen, der zum Schaden seiner Kinder alle ihre Krankheiten selbst behandelt, die unablässig im Haus schuftende Mutter, den Bruder Sergej, einen erfolgreichen Jäger und Liebling des Vaters. Es ist kein vollständiges Bild der Familie, die durch die Revolution bescheidenen Wohlstand und erhebliches Ansehen verliert: Von den Schwestern etwa ist kaum die Rede. Schalamow präsentiert sich als begabten Jungen, der früh lesen und schreiben kann und seine literarischen Interessen mühsam gegen den so gehassten wie bewunderten Vater durchsetzt. Es sind Erinnerungen wie unter einem Glassturz, lange konserviert und durch die Lagererfahrung sehr fern gerückt.

Warlam Schalamow: "Das vierte Wologda. Erinnerungen"
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Herausgegeben, mit einem Anmerkungsteil und einem Nachwort versehen von Franziska Thun-Hohenstein
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2014
558 Seiten, 34,90 Euro

Mehr zum Thema