Ein Leben voller Aufbrüche

Von Jürgen König · 26.09.2013
Er kannte fast jedes Arbeitslager in der Sowjetunion. Er ist mehrfach dem Tod entronnen, aber er hat sich nicht brechen lassen: der Schriftsteller, Chronist und Antistalinist Warlam Schalamow. Sein Leben ist jetzt Thema einer Ausstellung im Berliner Literaturhaus.
Neben den Verbrechen der Nazis müssten auch die des Stalinismus in der Erinnerung bewahrt und aufgearbeitet werden, hatte einst der spanische Schriftsteller Jorge Semprun gefordert, nötig sei ein "Doppelgedächtnis". Auch Warlam Schalamow dachte so: Auschwitz und der Gulag müssten zusammengedacht werden; nicht gleichgesetzt, aber dem Vergleich ausgesetzt. Die Ausstellungskuratoren Wilfried F. Schoeller und Christina Links folgen ihm darin, die Zeit des "Historikerstreits", an dessen Ende viele die Singularität der NS-Verbrechen bestätigt sahen - die sei vorbei.

"Natürlich stellt man sich auch im Zusammenhang mit so einer Ausstellung die Frage: 'Ist es schon so weit, dass wir uns dem als Deutsche überhaupt zuwenden sollen, dürfen, können?' Und uns ist in Russland nie jemand begegnet, der gesagt hätte: 'Beschäftigt euch doch mit eurem eigenen Kram! Warum wollt denn ihr im Gulag rumwühlen? Ihr habt genug Dreck am Stecken, in eurer Geschichte ...'

Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei, uns sind jedenfalls solche Haltungen nicht begegnet. Im Gegenteil: Es gibt die große Aufgeschlossenheit: "Ja, das sind zwei Seiten einer Zeit. Es sind Diktaturen, die Verbrechen an den Menschen begangen haben, mit unterschiedlichen Vorzeichen, mit unterschiedlichen Methoden - aber es gibt sehr viel, das erschreckend ähnlich ist."

Warlam Schalamow, ein Leben voller Aufbrüche. Das Kind flüchtet sich in die Welt der Bücher, der Jugendliche macht sich literarisch die revolutionäre Welt zu eigen; als Popensohn wird ihm die Universität verwehrt, also erfindet Schalamow eine Gerber-Ausbildung, arbeitet auch wirklich in einer Lederfabrik, schließlich darf er studieren, in Moskau: "sowjetisches Recht".

Die Revolution auf der Fahne
Die künstlerische Avantgarde der 20er-Jahre saugt er wie ein Schwamm auf, ein literarischer und politischer Enthusiast: Die "permanente Revolution" hat er sich auf die Fahnen geschrieben. Dass er Trotzki geistig die Treue hält und Lenins "Testament" vervielfältigt, in dem dieser vor Stalin gewarnt hatte, wird Schalamow zum Verhängnis: sein Schwager, Offizier des Geheimdienstes NKWD, verrät ihn: Als "Volksschädling" kommt er, der 22-jährige, für drei Jahren ins Arbeitslager.

1937 wird er ein zweites Mal verurteilt und in die Kolymaregion im Nordosten Sibiriens deportiert, ein Komplex aus Bergwerken, Industrieanlagen und Konzentrationslagern.

"An der Kolyma übergibt man die Körper nicht der Erde, sondern dem Stein. Der Stein bewahrt und enthüllt Geheimnisse. Stein ist verlässlicher als Erde. Der Dauerfrostboden bewahrt und enthüllt Geheimnisse. Jeder unser Nächsten, der an der Kolyma gestorben ist, jeder Erschossene, Totgeschlagene, vom Hunger Ausgezehrte, lässt sich noch identifizieren, selbst nach dutzenden Jahren. An der Kolyma gab es keine Gasöfen. Die Leichen warten im Fels, im ewigen Eis."

(Aus der Erzählung "Lend-Lease" von Warlam Schalamow, zitiert nach dem Ausstellungskatalog.)

1951 wird Schalamow entlassen; zwischen 1954 und 1973 entstehen die "Erzählungen aus Kolyma", in sechs Zyklen angeordnet, rund 150 Geschichten aus der "Zone des radikal Bösen". Schalamow schildert das Häftlingsleben als Abbild der sowjetischen Gesellschaft im Stalinismus, erzählt von Willkür und Terror, von Hunger und Verlorenheit, vom "Verlöschen des Lebens". Er moralisiert nicht, er gibt sich dokumentarisch-nüchtern - und schreibt doch kunstvoll. Christina Links:

"Er hat seine Erzählungen sprachlich-rhythmisch sogar musikalisch komponiert, er hat sich sozusagen in einen Zustand begeben, der qualvoll war, es waren immer auch natürlich persönliche Erinnerungen, aber es steckt sehr viel Symbolik in den Texten, die Verdichtung auch: diese ... nicht sich verlieren in Sentimentalitäten oder dem Versuch zu psychologisieren, Charaktere zu schaffen, das, was man eigentlich so von der realistischen Prosa gewohnt ist, das fehlt ja bei ihm. Das ist ja sehr karg und zugleich merkt man, es ist sehr bewusst alles gesetzt."

Die umfangreiche Ausstellung im Literaturhaus Berlin folgt dem Lebensweg des Warlam Schalamow mit privaten Dokumenten, Fotos, Filmen, Plakaten, Zeitungsartikeln. Sie zeigt die karge Ödnis der sibirischen Lagerwelt, Fotos auch derer, die ihn verrieten, Verhörprotokolle, Häftlingsfotos - etwa Zwangsarbeiter bei der Ziegelherstellung in Beresniki; das Chemiewerk sei, steht zu lesen, "heute noch in Gebrauch und eine "gigantische Umweltkatastrophe". Von Gefangenen geschriebene Zettelchen, Gerichtsurteile, Erschießungsprotokolle, Postkarten, die Kolyma als Idylle zeigen, Überwachungsfotos des KGB, noch Schalamows Beerdigung 1982 wurde observiert.

Und die Ausstellung zeigt: Gedichthefte, Schreibhefte, Manuskriptseiten, eng und ordentlich beschrieben, säuberlich die Korrekturen. Zu alledem ein ausgezeichneter Audioguide mit Texten von Schalamow in deutscher Sprache. Eine bedrückende, eine großartige Ausstellung, die noch dazu in mehreren Städten Deutschlands gezeigt werden wird.

Wie aktuell sie ist, zeigt der Offene Brief, den die Pussy-Riot-Sängerin Nadjeschda Tolokonnikowa jetzt aus dem Straflager IK 14 geschmuggelt hat, 500 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegen. Dort sitzt sie eine zweijährige Haftstrafe ab. Menschen würden dort zu Tode gequält, schreibt sie: Den Gulag gibt es nach wie vor.


Ausstellung "Leben oder Schreiben - Der Erzähler Warlam Schalamow"
Im Literaturhaus Berlin vom 27.9.-8.12.2013
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