Russen in der Türkei

Auf der Flucht vor Putin

22:35 Minuten
Die Shilouette der Hagia Sophia in Istanbul vor einem blutroten Himmel, an dem ein Flugzeug zu sehen ist.
Exitstrategie für russische Dissidenten, Touristen und Superreiche: Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine herrscht reger Flugverkehr zwischen Moskau und Istanbul. © IMAGO/Xinhua
Von Uwe Lueb und Karin Senz · 14.06.2022
Audio herunterladen
Für viele Russinnen und Russen, die in ihrer Heimat verfolgt werden, weil sie den Angriffskrieg in der Ukraine kritisieren und missbilligen, ist die Türkei ein Zufluchtsort. Doch der Neustart dort fällt ihnen oft schwer – nicht nur finanziell.
Der Zahl der Schuhe nach zu urteilen, müssten alle Bewohnerinnen und Bewohner zu Hause sein. Etwas durcheinander stehen elf Paar unter einem Schränkchen im Flur, das so viele Schuhe gar nicht beherbergen kann.
Sie alle gehören Russinnen und Russen, die ihre Heimat verlassen haben. Weil sie dort seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine keine Zukunft mehr für sich sehen, oder weil sie sogar verfolgt werden und fürchten müssen, festgenommen zu werden.

Ohne Visum in die Türkei

In die Türkei konnten sie alle ohne Visum kommen. Es ist einer der letzten Orte der Zuflucht für sie. Nun bilden sie eine Schicksalsgemeinschaft. Zwischen Anfang 20 und etwas älter als 40 Jahre sind sie alt.
Paare sind darunter, die sich gern ein Zimmer teilen – aber auch andere müssen zu zweit in ein Zimmer.
Blick von oben auf die Hagia Sofia und die Stadt Istanbul und auf die Wasserstrasse des Bosporus.
Blick über die Hagia Sophia auf den Bosporus: Für viele Menschen aus Russland ist die Türkei das Fenster zur Welt. © imago images/CSP_ehasdemir
Ihre Wohnung liegt in einem ärmeren Viertel hinter der historischen Altstadt Istanbuls, hinter Hagia Sophia und blauer Moschee. Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Studierenden-Wohngemeinschaft. So organisieren sie auch ihr tägliches Leben.
Im Gemeinschaftsraum, dem Wohnzimmer, sitzen sie bunt durcheinander, tauschen sich aus. Die Küche ist am Kopf des Zimmers, abgetrennt durch eine Theke über halbhohen Schränken. Manchmal kochen die Bewohner zusammen, manchmal einzeln.

Hier wohnen bedrückte Menschen

Eine junge Frau steht am Herd in der Ecke. Sie will Nudeln kochen mit etwas Gemüse – auch das erinnert eher an Studierende. Aber es ist zu spüren, dass hier nicht unbeschwerte junge Leute leben, deren vermutlich größte Sorge die nächste Prüfung ist oder ob sie einen neuen Job finden.
Hier wohnen bedrückte Menschen, wortkarg die meisten, nachdenklich. Das Essen steht dampfend auf dem Tisch. Heute kochen sie in kleinen Gruppen. Die Nächsten können an den Herd.
Zwei junge Frauen sitzen nebeneinander auf einem Sofa und reden miteinander.
„Arche“ nennen sie die WGs: Eine Bewohnerin spricht mit Alevtina (r.), die zu den Organisatoren der russischen Wohngemeinschaften gehört.© Deutschlandradio / Uwe Lueb
Eine Katze gehört auch dazu. Sie geht langsam durchs Wohnzimmer und streicht um Beine.
Auf dem Sofa sitzt eine junge Frau. Um ihren Kopf hat sie ein Handtuch gewickelt. Nervös wippt sie mit einem Bein. Neben ihr sitzt Alevtina und hört ihr zu. Alevtina ist die Einzige, die nicht hier wohnt. Sie ist eine Art Betreuerin, Organisatorin von Russen-WGs – „Arche“ nennen sie die Wohngemeinschaften.
In Russland hat Alevtina als Sozialwissenschaftlerin im akademischen Bereich gearbeitet, aber sie war auch in der Kunstszene aktiv als Designerin und Kuratorin. Ihr eigener Entschluss, ihr Land zu verlassen, war fast spontan.
„Ich kam am dritten März hier an. Erst zwei Tage davor habe ich das Ticket gekauft", erzählt sie.

Das war eher eine emotionale Entscheidung. Nach der ersten Kriegswoche waren die Menschen verängstigt. Es gab viele Gerüchte, dass die Grenzen geschlossen würden oder keine Flugzeuge mehr fliegen. Wir hatten Angst, in der Falle zu sitzen. Jetzt müssen wir sehen, wie wir mit der neuen russischen Autokratie umgehen.

Alevtina, Organisatorin der Russen-WGs in Istanbul

Eine schwarze Katze mit weißem Latz sitzt auf dem Fußboden.
Türkische Katze sucht russischen Familienanschluss: eine der beliebtesten Mitbewohnerinnen in der Hausgemeinschaft.© Deutschlandradio / Uwe Lueb

In Istanbul kam sie bei einer Freundin unter, die schon länger in der Stadt lebt. Zuerst wollte sie hier ihre akademische Laufbahn fortsetzen oder zusehen, dass sie in die EU oder in die USA kommt. Doch dazu kam es bisher nicht.
„Einige Tage später trafen wir einen Russen, der politisch engagiert war. Der fragte uns, ob wir ihm mit seinem Arche-Projekt helfen können, das sich um russische Flüchtlinge kümmert. Auch um Leute, die wegen politischer Verfolgung fliehen mussten und in einer schwierigen finanziellen Lage sind", erzählt sie.

Die Idee ist es, Gemeinschaftswohnungen anzumieten für Menschen, die nicht genug Geld haben, um sich eine eigene Wohnung zu nehmen.

Alevtina

Putin-Gegner unterstützen WGs in Istanbul

Hinter dem Arche-Projekt steht zunächst eine Frau, die schon Ende Februar auf die Idee kam, in Eriwan in Armenien und in der Türkei russischen Flüchtlingen zu helfen. In beide Länder können Russen problemlos reisen.
Das Projekt hatte schnell eine eigene Internetseite. Freiwillige helfen bei der Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber. Alevtina und ihre Freundin kümmern sich um die Wohnungen in Istanbul. Drei solche Russen-Wohngemeinschaften gibt es. Eine Gruppe von Kriegsgegnern hat sich um die weitere Finanzierung gekümmert und um Pressearbeit bei regierungskritischen russischen Medien.
Schließlich haben sie eine Crowd-Funding-Kampagne gestartet, also eine Spendenaktion über das Internet. Einer der Spender ist Michail Chodorkowski, ein früherer Oligarch. Er lebt inzwischen in London.
Ein freundlicher Mann mit wenig Haar, Brille und Puli gestikuliert mit einem Mikrofon in einer Wohnung vor einem Bücherregal.
Ex-Oligarch und Öl-Tycoon Michail Chodorkowski, einst Russlands prominentester Häftling, lebt heute in London und unterstützt seine Landsleute in der Türkei. © imago/CTK Photo
„Die Organisatorin des Arche-Projekts hat Kontakt zu Chodorkowski. Er ist einer der Unterstützer des Projekts – so wie andere.“ Wie wichtig die Arbeit der Arche ist, zeigt sich spätestens dann, wenn die Hilfesuchenden hier ankommen, sagt Alevtina. Meistens geht es ihnen nicht gut.

Bedrohte, politisch verfolgte Geflüchtete

Viele wissen nicht, wie es weitergehen soll. Die Nöte, die sie zur Flucht aus Russland veranlasst haben, sitzen ihnen noch in den Knochen. Und in der Regel haben sie kein Geld – mehr.
„Die Situation ist ziemlich schwierig, weil vor allem die zuerst Gekommenen das nicht geplant hatten. Einige waren bedroht, wurden politisch verfolgt. Sie haben all ihre Ersparnisse für den Flug ausgegeben, weil die Preise gerade zu Kriegsbeginn in die Höhe geschossen sind und der Rubel an Wert verloren hat“, erklärt sie.
„Sie haben nicht erwartet, dass es so teuer sein würde, aus Russland zu fliehen. Also konnten sie hier keine Wohnung mieten. Daher war die Arche rein wirtschaftlich sehr wichtig für sie.“ Dabei ist die praktische und wirtschaftliche Hilfe an einem neuen, den meisten fremden Ort nur die eine Seite.

"Die Katastrophe in Russland verstehen"

Es geht auch darum, Menschen psychisch aufzufangen – nicht nur in einer materiellen Krise, sondern in Momenten, in denen sie alles infrage gestellt sehen, erzählt Alevtina.
„Es geht auch um die moralische Unterstützung – darum, Leute um sich zu haben, die in derselben Situation sind, dieselben Gefühle haben, die gleichen Werte teilen, die verstehen, welche Katastrophe in Russland passiert“, sagt sie.

Viele erzählen, dass es nicht auszuhalten war, in Russland unter Leuten zu sein, die nicht verstehen, was passiert ist – die weiterleben wie immer und man selber innerlich stirbt. Hier auf Gleichgesinnte zu treffen, ist da sehr hilfreich. Sie reden miteinander, unterstützen sich gegenseitig. Das ist eine moralische Stütze.

Alvetina

Wie verunsichert die Russinnen und Russen in der Arche sind, zeigt ihre Zurückhaltung. Sie erzählen nur wenig über sich und ihre Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen haben. Ins Mikrofon sagen wollen sie das schon gar nicht.
Ein Mann mittleren Alters sitzt auf einem Hocker und schaut in sein Handy. Hinter ihm werkeln jüngere Menschen in einer offenen Küche.
In Russland arbeitete Andrej als Menschenrechtsanwalt und Aktivist gegen die Regierung unter Putin. Wegen seines Engagements wurde er mehrfach festgenommen.© Deutschlandradio / Uwe Lueb
Andrej redet dann doch mit uns. Ihn hat die Arche im wahrsten Sinne aufgefangen, als er in Not war. Anders als Alevtina ist er nicht nur überstürzt aus Russland ausgereist, sondern geflohen.

"Die Polizei kennt mich gut "

Er fühlte sich immer mehr bedroht, glaubte, dass er sich in Sicherheit bringen musste.
„In Russland war ich ein politischer Aktivist und ich war ein paar Mal im Gefängnis – insgesamt ungefähr einen Monat lang: Ich bin einige Male verurteilt worden. Die Polizei kennt mich gut. Ich lebte in einer Kleinstadt bei Moskau. Die Polizei kam regelmäßig vorbei“, erzählt er.
„Als der Ukrainekrieg begann, lebten wir eine Woche lang in Angst, dass die Polizei mich jeden Moment wieder abführt. Da haben wir eines Tages entschieden, dass es Zeit ist, aus Russland zu fliehen. Wir haben Tickets gekauft und sind tags drauf nach Eriwan geflogen.“
„Wir“ – das sind Andrej und seine Frau. Mehr möchte er nicht über sie sagen. Denn sie ist mittlerweile zurückgegangen. Aus Gründen, die er nicht näher ausführen möchte – um sie zu schützen wie er sagt.
Andrej ist dann allein weiter nach Istanbul gereist. In Russland war er Rechtsanwalt, hat sich vor allem um die Einhaltung von Menschenrechten gekümmert. Selbst juristisch belangt wurde er aber nicht deswegen, sondern wegen seiner politischen Aktivitäten.
„Ich habe an Demonstrationen teilgenommen und Kundgebungen. Und dann auch wegen meiner Posts in den sozialen Medien. Ich war immer gegen das Putin-Regime, habe niemals für ihn gestimmt. Naja, und ich habe an politischen Aktionen teilgenommen wie Demonstrationen“, erzählt er.

Es ist halt so, dass alle politische Aktionen, die nicht für Putin sind, in Russland illegal sind. Wenn man eine Demonstration organisieren möchte, braucht man eine Genehmigung und ist damit jemand, der gleich verhaftet wird.

Andrej, russischer Menschenrechtsanwalt

Ohne Geld, ohne Papiere

Jetzt ist Andrej in Istanbul – ohne Geld. Er versucht, irgendwie etwas über das Internet zu verdienen. Bisher aber ohne großen Erfolg, sagt er. Sein Anwaltsberuf sei außerhalb Russlands leider nichts wert. Schlimmer als das ist aber, dass er in ein paar Wochen auch ohne Papiere dasteht.
„Es ist komisch, aber mein Pass läuft ab“, sagt er. „Ich hatte keine Zeit mehr, in Russland einen Neuen zu beantragen oder ihn zu verlängern, und das Konsulat in Istanbul arbeitet nicht. So siehts aus.“
Und selbst wenn das Konsulat seinen Pass verlängern könnte, weiß er nicht, ob sie es täten. Er könnte ja auf einer Liste stehen und Russland könnte ihn festnehmen wollen. Gefragt nach seiner Zukunft blickt er ratlos.
Seine Antwort zeigt aber, wie sehr es ihn beschäftigt und dass er sich diese Frage selbst oft gestellt hat: „Ich sehe drei Wege: Ein europäisches Land könnte mir als Flüchtling Asyl gewähren. Zweitens könnte ich in ein Land gehen, in dem mein Personalausweis ausreicht, zum Beispiel Armenien. Oder ich bleibe hier – illegal.“
Ein kahlköpfiger Mann mit Mikrofon performed auf einer Bühne.
Der politisch aktive russische Rapper Oxxxymiron hat im Frühjahr in Istanbul ein Konzert gegeben.© imago/ITAR-TASS
„Wenn alle Wege ins Nirgendwo führen, ist es Zeit, nach Hause zu gehen“, singt der populäre russische Musiker Oxxxymiron. In Istanbul hat er im Frühjahr ein Solidaritätskonzert für die Ukraine gegeben.
Viele Russen waren da. So ein Song kann sie wehmütig machen. Doch nach Hause gehen, so gern er es wollte, kommt für Andrej erst mal nicht infrage.

Sorge, dass Russland die Grenzen dichtmacht

Andere haben es besser als er. Sie sind erst mal hier, haben gültige Papiere und können sogar weiterarbeiten – über das Internet. So geht es zum Beispiel Julie und Ramil. 25 und 30 Jahre alt sind sie. Verfolgt waren sie in Russland nicht. Doch seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine sehen sie in ihrem Land keine Zukunft mehr.
Eigentlich wollten sie schon früher immer wieder mal weggehen. Aber mit dem Krieg wurde ihnen klar, dass es irgendwann zu spät sein könnte. Ihre Sorge, dass Russland die Grenzen dichtmacht, war groß. Nicht nur bei ihnen, auch bei ihren russischen Freunden.
Die haben sie in Istanbul schnell gefunden – viele, sagt Julie: „Sehr viele! Wir treffen Russen auf der Straße, wir helfen uns gegenseitig, wenn wir Russisch hören. Mit der Steueraufsicht, den Banken. Wir versuchen, Informationen auszutauschen, über Messengerdienste. Wir haben einen gemeinsamen Chat von Russen bei Telegram.“

Sehr viele unserer Freunde sind auch hierhergekommen und wir treffen uns regelmäßig mit ihnen, um Neuigkeiten auszutauschen, Informationen weiterzugeben, weil es gerade wirklich für alle sehr schwer ist. Niemand kann ein Konto eröffnen oder eine Wohnung finden, manche mieten sich dann zusammen eine.

Julie, eine junge Russin

Nicht mehr willkommen im eigenen Land

Es gibt ihnen – so ironisch es klingen mag – ein neues Selbstwertgefühl, den Eindruck, gebraucht zu werden, wichtig zu sein. Das haben sie in Russland nicht mehr gespürt. Sie fühlten sich in ihrem eigenen Land nicht willkommen, beklagt Julie.
Nach Kriegsbeginn wurde es immer schlimmer. Sie spürte keine Stabilität mehr, war angespannt, konnte nicht mehr arbeiten. Ramil malt ein ähnlich düsteres Bild. Er versucht zu erklären, wie sich seine letzten Tage in Russland angefühlt haben.
„Also wir wurden schon in Russland geboren, nicht in der Sowjetunion. Aber wegen unseren Eltern, Verwandten, der gesamten Umgebung können wir uns ungefähr vorstellen, wie das Land während der Zeit totaler Isolation ausgesehen hat. Und wir hatten das Gefühl, dass das zurückkommt, dass möglicherweise in ein paar Jahren Russland ähnlich aussehen wird, wie es in der Sowjetunion aussah“, sagt er.

Das ist, weißt du, wie aus Albträumen, ein geschlossenes Land, von allen isoliert, alle sind Feinde. Wir wollten auf keinen Fall dortbleiben und abwarten, bis das passiert. Wir würden gerne in einer freien Welt leben, in einer Welt, wo alle um uns herum Freunde sind und nicht in einer isolierten, wo alle drumherum Feinde sind.

Ramil, junger Russe in der Türkei

Schließlich sind sie innerhalb von einem Tag gegangen, haben schnell zusammengepackt, was sie unbedingt mitnehmen wollten. Sie haben noch ihre Eltern einander vorgestellt und sich von ihnen verabschiedet, berichtet Ramil.

"Das Schrecklichste war die Grenze"

Aber auf dem Weg zum Flughafen wurden sie immer nervöser, erinnert sich Julie.
„Wir hatten große Angst an der Grenze. Als wir zum Flughafen fuhren, haben wir versucht, alle Messenger, Telegram, Instagram, Petitionen gegen den Krieg, die wir unterschrieben haben – wir haben wirklich alles gelöscht“, sagt sie. „Weil es Gerüchte gab, dass sie einen an der Grenze mitnehmen und in dein Telefon schauen – welche Ansichten man hat: ‚Seid ihr Oppositionelle oder nicht?‘“

Also das Schrecklichste war in der Tat an der Grenze, als wir gegangen sind. Aber uns haben sie keine Angst gemacht. Ein paar von meinen Freunden und Bekannten haben sie mitgenommen und befragt. Aber bei uns hat alles geklappt.

Julie

Sie glauben, dass sie das Richtige getan haben. Die Unwägbarkeiten ihres neuen Lebens nehmen sie dafür in Kauf. Was sie auch beruhigt, zum Abschied wurden sie ermutigt. Es sei richtig, zu gehen: „Bei mir waren alle Freunde und meine Eltern dafür. Sie haben gesagt, dass das wirklich eine sehr vernünftige Entscheidung ist.“
Drei junge Menschen stehen in einem engen Wohnungsflur und sprechen miteinander.
Erfahrungsaustausch und Tipps für das Überleben in der Türkei: Die WGs der „Arche“ in Istanbul sind eine wichtige psychosoziale Anlaufstelle.© Uwe Lueb, ARD-Studio Istanbul
Vernünftig finden ihre Entscheidung dieses Frühjahr auch vier junge Leute in Antalya. Man könnte sagen, der Krieg hat sie zusammengetrieben. Sie zu erleben, macht den Irrsinn des Krieges noch deutlicher.
Denn sie kommen aus beiden Ländern, aus Russland und der Ukraine. Sie arbeiten alle für eine Firma in Moskau – online.

"Russe zu sein, ist zu einem Stigma geworden"

Diana, Sergej, Ilya und Roman sitzen auf dem Balkon ihrer Wohnung in Antalya. Die große Ferienanlage ist noch ziemlich leer, am Pool unten liegen grade mal zwei Gäste. Es ist Vorsaison. Das türkisblaue Mittelmeer, das sie am Horizont sehen können, ist noch relativ kühl. Sie waren trotzdem schon drin und wurden von den Einheimischen, die warme Jacken trugen, schräg angeschaut, erzählt Diana.
Einige Türken reagieren auf sie als Russen aber auch wegen des Krieges: „Sie machen seltsames Zeug, wie, dass sie vor uns salutieren. Und dann denken sie, dass wir das witzig finden. Aber uns ist nicht zum Lachen“, so die 30-Jährige.
Sergej ist mit 40 der älteste unter den vieren. Wenn er erzählt, versucht er seine Hände unter Kontrolle zu halten, legt die Handflächen auf den Tisch. Aber immer wieder fängt er an, nervös an den Fingern zu zupfen.
„Russe zu sein ist zu einem Stigma geworden. Hier in der Türkei fühle ich mich weitgehend okay. Denn die Leute hier sind freundlich zu Russen. Aber wenn ich mir vorstelle, ich gehe nach Europa oder in die USA, da begegnet man uns sicher nicht so nett“, sagt er.
Roman ist ebenfalls 30. Er macht den unbeschwertesten Eindruck unter den Freunden. Aber auch ihn treibt vieles um in diesen Tagen.

Nach Butscha kann ich verstehen, wenn Leute Angst vor Russen haben. Oder dass sie, wenn sie Russen in ihrem Land treffen, sagen, geh zurück nach Hause und mach was.

Roman, Russe in Antalya

Ilya ist ein junger Mann mit halblangen dunkelblonden Haaren, die er sich immer wieder aus dem Gesicht streift. Früher ist er auch zu Demos gegangen. Aber das hat doch alles nichts gebracht, meint der 34-Jährige.
„Ich denke, die Regierung nimmt diese ganzen Proteste doch gar nicht wahr. Aber die Konsequenzen für die Demonstranten sind heute viel härter. Darum verstecke ich mich einfach nur. Das ist traurig. Aber wir haben ja sogar hier Angst irgendwas zu unternehmen“, erzählt er.

Sie versuchen, Oppositionelle zu unterstützen

Sie wollen keine Nachnamen nennen und auch nicht die Branche, in der sie als Softwareentwickler arbeiten. Sie versuchen, Oppositionelle finanziell zu unterstützen.
Aber das ist nicht so einfach, erklärt Diana: „Vor ein paar Tagen wollte ich was spenden, aber es hat nicht funktioniert. Man läuft sogar Gefahr, dass einem das Konto gesperrt wird, weil diese ganzen Organisationen in Russland als illegal gelten.“
Eine Demonstrantin in gelbblauer Regenjacke trägt ein Porträt von Putin vor sich her, das mit roter Farbe durchgestrichen ist.
Menschen demonstrieren am 24. Februar 2022 vor dem russischen Konsulat in Istanbul gegen die Invasion der Ukraine.© Getty Images / dia images / Cem Tekkesinoglu
Die jungen Leute sind zerrissen. Einerseits wollen sie einfach ein unbeschwertes Leben führen, andererseits lässt sie das, was daheim passiert, nicht kalt.

"Gib mir mein Handy zurück"

Bei Roman ist es noch komplizierter. Er hat einen russischen und einen ukrainischen Pass. 2014, nach der Annexion der Krim, ging er von dort nach Moskau. Da fühlt er sich aber nicht mehr sicher.
„Als ich Moskau jetzt verlassen habe, hat mich einer von der Regierung am Flughafen festgehalten“, erzählt er. „Er hat meine Dokumente durchsucht, mein Handy, meine Fotos und meine Nachrichten. Schließlich hat er mich gefragt, ob ich zur ukrainischen Armee will. Ich habe nur gesagt, gib mir mein Handy zurück.“
Ilya lacht im Hintergrund, obwohl auch seine Situation ernst ist. Er und auch Sergej haben Angst, zur russischen Armee eingezogen zu werden. Das war einer der Hauptgründe für ihre Flucht, auch wenn sie das Wort „Flucht“ meiden.
„Ich stehe praktisch in der ersten Reihe. Ich bin Single, habe keine Kinder. Aber ich bin wirklich ein ganz friedliebender Mensch. Ich kann nicht mal einer Fliege was zuleide tun“, sagt er. Roman geht es ähnlich. Zurück in die Ukraine kann er auch nicht. Sie könnten ihn für einen Spion halten.
An ihrer Arbeit hat sich in Antalya wenig geändert. Sie waren auch schon in Moskau wegen Corona überwiegend im Homeoffice und trotzdem ist es anders, erzählt Diana.

Für mich ist es schwer, meine Kollegen in den Videokonferenzen zu sehen. Denn ich sehe, dass sie traurig sind, in Moskau zu sein, und dass sie Angst haben. Ich wünschte, sie könnten hier bei uns sein.

Diana, Moskauerin in Antalya

Sergejs Hände liegen für einen Moment ruhig auf dem Balkontisch. „Das Wetter, die Landschaft, der Ausblick – das hilft gegen die schlechten Nachrichten und gegen schlechte Laune. Man kann ein bisschen runterkommen. Ich schlafe deutlich besser“, erzählt er.

Auf der Suche nach einem neuen Leben

Allerdings: Anfang Mai müssen sie eigentlich abreisen. Zum einen läuft dann ihr Touristenvisum ab, zum anderen geht ihnen das Geld aus. Wegen der Sanktionen kommen sie nicht an ihre Konten in Russland. Wohin sie dann gehen?
Ilya streift sich die langen Haare nervös aus dem Gesicht: „Ich hoffe wirklich, nach Moskau zurückgehen zu können. Ich liebe die Stadt und meine Freunde da. Ich hoffe, dass all das bald vorbei ist und wir nicht durch die Welt irren müssen, auf der Suche nach einem neuen Leben.“
Ilya ist wie auch sein Kollege Sergej zurück nach Moskau. Diese Hoffnung hat sich erfüllt – dass alles bald vorbei ist, nicht. Diana ist nach Bulgarien, vorübergehend. Und Roman – er sucht ein neues Leben. Seine nächste Station dabei ist Israel.

Abonnieren Sie unseren Weekender-Newsletter!

Die wichtigsten Kulturdebatten und Empfehlungen der Woche, jeden Freitag direkt in Ihr E-Mail-Postfach.

Vielen Dank für Ihre Anmeldung!

Wir haben Ihnen eine E-Mail mit einem Bestätigungslink zugeschickt.

Falls Sie keine Bestätigungs-Mail für Ihre Registrierung in Ihrem Posteingang sehen, prüfen Sie bitte Ihren Spam-Ordner.

Willkommen zurück!

Sie sind bereits zu diesem Newsletter angemeldet.

Bitte überprüfen Sie Ihre E-Mail Adresse.
Bitte akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung.
Mehr zum Thema