Die Demilitarisierung ist fester Bestandteil unserer Autonomie. Åland soll weiter eine Insel des Friedens sein.
Ostsee-Archipel Åland
Ausflugslokal auf dem Åland-Archipel mit schwedischer, åländischer und finnischer Flagge: Die Åland-Inseln gelten als gelungenes Beispiel für Minderheitenschutz. © Deutschlandradio / Michael Frantzen
Nicht weit von Russland, ganz nah am Frieden
21:50 Minuten
Finnland und Schweden treten der NATO bei. Darüber ist das schwedische Gotland genauso erleichtert wie das finnische Åland. Letzteres hat einen Sonderstatus. Das Archipel ist seit 100 Jahren autonom und entmilitarisiert - und möchte es gerne bleiben.
Er ist pünktlich auf die Minute: Roger Nordlund. Und bestens gelaunt. Mit seinem Hund war der Zentrums-Politiker heute Morgen schon in der Sonne spazieren. Einmal die Lindenpromenade rauf und runter. Vom West- bis zum Osthafen von Mariehamn, der Hauptstadt der Åland-Inseln.
Wer etwas über den finnischen Ostsee-Archipel und seinen Sonderstatus erfahren will, ist beim Mann im blauen Anzug an der richtigen Adresse.
100-Jahr-Feiern auf dem Archipel
Schließlich hat der 64-Jährige nicht nur einen Schlüssel für den Landtag, sondern auch jede Menge politische Erfahrung.
Zwanzig Jahre Regierungsverantwortung, davon acht Jahre lang als Ministerpräsident. Auf der 30.000 Einwohner zählenden Inselkette kann Roger politisch so schnell niemand das Wasser reichen. Aktuell ist er Vizeparlamentspräsident und gerade etwas aufgeregt. Wegen des anstehenden Feiertags.
Am neunten Juni feiern Roger und Co. „100 Jahre Eigensinn“, wie es überall auf Flaggen heißt. Vor genau hundert Jahren traf sich die erste Åländische Volksvertretung. Der Bürgerliche strahlt.
Neutral, entmilitarisiert und autonom
Ihm gefällt das. Dass sie über alle Bereiche außer Verteidigung und Außenpolitik selbst entscheiden. Neutral, entmilitarisiert und autonom sind. Dass das so ist, hat mit den Wirren des Ersten Weltkrieges zu tun und einem Kompromiss des Völkerbunds, des UNO-Vorgängers.
Dazu muss man wissen: Nach der Unabhängigkeit Finnlands von Russland 1917 gehörte Åland zwar zu Finnland, doch kulturell und sprachlich fühlten sich Leute wie Rogers Großeltern Schweden viel näher.
"Wir nennen es immer das Åland-Beispiel. Alle drei beteiligten Seiten waren enttäuscht. Die Schweden verloren Åland. Die Åländer bekamen nicht ihre Wiedervereinigung mit Schweden. Und die Finnen nicht die absolute Kontrolle über die Inselgruppe. Gleichzeitig aber hat sich das Abkommen für alle drei gelohnt", sagt er.
"Wir in Åland erhielten unsere Autonomie und die Garantie, dass wir die schwedische Sprache und Kultur weiter pflegen dürfen. Die Schweden konnten zufrieden sein, dass die Inseln demilitarisiert blieben – und so keine Gefahr für die Hauptstadt Stockholm darstellten. Und Finnland hatte eine gewisse Souveränität über Åland. An sich kein schlechter Deal, doch die politischen Führer auf Åland waren maßlos enttäuscht. Für sie war das Abkommen eine einzige Katastrophe."
Åland ist finnlandweit Musterschüler
Die vermeintliche Katastrophe entpuppte sich mit der Zeit als Segen. Rogers Heimat ist in vielen Bereichen Spitzenreiter. Mit dem höchsten Durchschnittseinkommen in ganz Finnland, hauptsächlich Dank der Schifffahrt und zunehmend auch der IT-Branche. Mit den besten Schulen. Mit der besten Gesundheitsversorgung.
Alles prima, wenn da nicht die Weltpolitik wäre. Roger hebt die Hände. Der russische Überfall auf die Ukraine, natürlich, was sonst. Zum Festakt hat sich neben dem schwedischen König Carl Gustaf auch der finnische Präsident Niinistö angekündigt.
Ein Thema wird sicher auch der geplante NATO-Beitritt beider Länder sein.
"Das ist schon eine kleine Herausforderung für uns. Aber die finnische Regierung hat uns versichert, dass unser Status als demilitarisiertes und neutrales Gebiet auch bestehen bleibt, wenn Finnland der NATO beitritt. Das freut mich. Die Demilitarisierung ist fester Bestandteil unserer Autonomie. Åland soll weiter eine Insel des Friedens sein. Das Leben besteht aus Risiken. Natürlich bereitet uns das aggressive Verhalten Russlands Sorgen. Auch in der Ostsee. Aber wir sind ja nicht schutzlos – trotz unseres demilitarisierten Status. Der finnische Staat hat das Recht und die Pflicht unser Territorium zu verteidigen. Also schutzlos sind wir nicht."
Roger schaut verstohlen auf seine Armbanduhr. Es wird Zeit, er muss rüber zum Regierungssitz, zur Ministerpräsidentin.
Wurde Putin mit einer Frau im Wald gesichtet?
Deshalb nur schnell noch eine Frage: Was ist dran am Gerücht, dass Wladimir Putin in der Vergangenheit angeblich auf Åland gesichtet wurde? Angeblich in weiblicher Begleitung, auf einem abgelegenen Waldgrundstück samt Villa, das dem russischen Staat gehört? Der sonst so joviale Politiker winkt ab. Kein Kommentar.
Nur soviel: "Das Gelände gehörte Deutschen – und wurde im Zweiten Weltkrieg von den Sowjets beschlagnahmt, nach dem Sieg über Finnland. Es gehört jetzt den Russen. Aber es ist relativ klein und soweit ich weiß, steht da auch keine luxuriöse Villa", sagt er.
"Wenn, dann sollten wir uns lieber über das russische Konsulat in Mariehamn unterhalten. Es existiert seit 1940. Da kann man sich schon fragen: Muss es immer noch hier sein? Oder könnte es nicht weg? Während des Kalten Krieges arbeiteten da allerdings noch viel mehr Leute. Heute lebt offiziell nur noch der russische Konsul mit seiner Frau dort. Aber wir auf Åland können das nicht entscheiden. Das kann nur der finnische Staat."
Einen guten Überblick über das russische Konsulat hat Petra Granholm. Ihr Büro im "Friedensinstitut" - einer NGO - liegt schräg gegenüber der hermetisch abgeriegelten Villa.
„Am Anfang gab es jeden Tag um fünf eine Protestaktion vor dem Konsulat. Jetzt gibt es immer noch Plakate. Die Zeiten sind gerade schwierig. Es gibt eigentlich keinen Grund mehr, Kontakte zu haben.“
Deutsch spricht die Friedensforscherin seit über 20 Jahren; seitdem sie nach dem Abitur auf einem Pferdehof im Fränkischen jobbte. Den zwei Auslandssemestern in Heidelberg. Sie hat immer noch einen Bezug zu Deutschland.
Åland-Inseln als Beispiel für Gewaltlosigkeit
Erst vor kurzem war sie in Greifswald, beim Nordklang-Festival. Um Musik sei es dabei nicht gegangen, meint sie lachend im Besprechungszimmer, in dem früher ein Brauereibesitzer residierte, deshalb auch der reich verzierte Kachelofen.
Stattdessen habe sie darüber referiert, wie ihr Institut vor 30 Jahren aus der Friedensbewegung entstand und wie es ist, in einem demilitarisierten Gebiet zu leben.
„Wir wollen etwas verändern. Wir wollen eine Alternative zu Gewalt vorstellen. Und Frieden als eine Möglichkeit präsentieren.“
Die Åland-Inseln als gelungenes Beispiel für Minderheitenschutz, für Autonomie und Gewaltlosigkeit: Das Interesse daran ist groß. Die letzten zwei Jahre war es zwar eher ruhig, wegen Corona, doch davor gaben sich ausländische Besucherinnen und Besucher die Klinke in die Hand, besonders aus Spanien mit seinen autonomen Regionen.
„Es gibt wichtige Unterschiede. Zum Beispiel, dass das Baskenland diese Gewalterfahrung hat. Und Åland hat gerade das nicht. Und Katalonien mit dem Separatismus ist ganz anders", sagt sie.
"Aber es gibt immer Kleinigkeiten, die inspirieren. Und ich denke, das Wichtigste, das wir vorstellen möchten, ist, dass man Konflikte ohne Gewalt lösen kann. Es gibt friedliche Lösungen", betont die Juristin, nur um hinzufügen, die Autonomie auf Åland sei nichts Statisches, sondern verändere sich ständig.
Flexibel sein, das gilt auch für Petra. Flexibel und mobil. Studiert hat sie im finnischen Turku, an der schwedischsprachigen Hochschule.
Bin ich finnisch oder schwedisch?
Danach hat sie einige Zeit in Reykjavík gelebt, der isländischen Hauptstadt. Bis sie Heimweh bekam.
„Erst bin ich Åländerin. Und dann haben wir Studien gemacht über Identität. Und die meisten sagen dann, dass sie nordisch sind. Vielleicht weil es schwierig ist zu sagen, ob man finnisch oder schwedisch ist. Ich denke, in Fragen der Identität gibt es Schichten. Man kann mehrere Identitäten haben. Für mich ist es schwierig zu sagen, ob ich finnisch oder schwedisch bin. Ich bin alles und nix.“
Die Wege auf Åland sind kurz. Manchmal sehr kurz.
Seit ein paar Jahren teilt sich das Friedensinstitut die alte Villa mit "Bärkraft", dem Nachhaltigkeitsnetzwerk. Und auch im Büro von Karen Rosenberg-Brunila thront in der Ecke ein beeindruckender Kachelofen. Allerdings kein funktionsfähiger, meint die 34-Jährige mit einem Grinsen im Gesicht. Nur um schnell hinterherzuschieben, angesichts der CO2-Bilanz sei das vielleicht auch besser so.
Ziel: mehr für Nachhaltigkeit tun
Zusammen mit ihrer Kollegin Sofia versucht sie, die Leute auf Åland für Nachhaltigkeit zu sensibilisieren. Auf ihre Art.
"Es ist jetzt nicht so, dass Sofia oder ich uns im stillen Kämmerlein überlegen: 'Oh, was sollten wir als nächstes tun?' Wir arbeiten fast immer direkt mit den Unternehmen und der Bevölkerung zusammen. Wir fragen sie: 'Was wollt Ihr'? Wir versuchen so flexibel wie möglich zu sein. So können wir mehr für die Nachhaltigkeit tun. Die kurzen Wege bei uns sind eine unserer Stärken. Wir können mit relativ wenig Aufwand viele Leute erreichen."
Natürlich wird die Umweltaktivistin bei den Festlichkeiten am 9. Juni dabei sein. Selbst als „Zugereiste“, wie Alteingesessene manchmal etwas despektierlich die 3000 Schwedinnen und Schweden und 5000 Finnen und Finninnen nennen, die nach Åland gezogen sind.
Wie Karen. Sie stammt aus Südfinnland, aus Ekenäs, dem schwedischsprachigen Küstenstädtchen. Dort kennt jeder jeden. Auf Åland auch.
"Wenn du einkaufen gehst, kann es sein, dass du in der Schlange neben einem Minister stehst. Ich denke, das würde in Finnland oder Schweden nicht so schnell passieren. Es hat seine guten Seiten und seine schlechten. Als Ministerin oder Minister überlegst du dir natürlich zwei Mal, wie du dich entscheidest, wenn du jeden Tag deinen Wählern und Wählerinnen in die Augen schauen musst", sagt sie.
"Für die Nachhaltigkeit kann das manchmal allerdings ein Nachteil sein. Gewisse Beschlüsse, die auf lange Sicht gut sind, können ja erst einmal unangenehm sein. Deshalb gibt es diese Tendenz unter unseren Politikerinnen und Politikern, trotz der Klimakrise Nachhaltigkeitsziele zu verwässern. Obwohl wir auf lange Sicht davon profitieren würden."
Klimakrise macht auch vor Åland nicht halt
Die Klimakrise macht auch vor dem Archipel nicht halt. 2019 fegte ein mittlerer Orkan über die Inseln hinweg, es war der stärkste Sturm seit Jahrzehnten, wochenlang waren Ortschaften ohne Strom. Ein Jahr später ächzten Bevölkerung und Landwirte unter einem Rekord-Sommer, mit tropischen Nächten und ausgetrockneten Feldern und Obst-Plantagen.
Jetzt im Frühling allerdings: Blüht und gedeiht es überall. Scheint die Welt im Åländischen Bullerbü wieder in Ordnung zu sein. Auch Karen kann sich am Farbenmeer kaum satt sehen. Und doch beschleicht sie manchmal ein ungutes Gefühl.
"Um es mal negativ zu formulieren: Unsere schöne Natur kann manchmal von Nachteil sein. Wenn wir über den Verlust von Biodiversität reden, denken sich viele, ja, ernstes Thema, aber das betrifft doch nicht uns. Hinzu kommt, dass nur ein verschwindend geringer Teil der Inseln unter Naturschutz steht. Der Anteil liegt bei zwei Prozent, das müsste laut EU viel höher sein. Doch es gibt bei uns nun mal diese ausgeprägte Tradition des privaten Landbesitzes. Also da haben wir eindeutig Nachholbedarf."
Nach Kastelholm, dem knapp eine halbe Autostunde von Mariehamn entfernten Weiler – und damit zu einem Mann, der gerade fleißig dabei ist, in "Smakbyn", dem Edelrestaurant, Autogramme zu verteilen. Zur Not nicht nur auf Kochbücher, sondern auch auf das eine oder andere knallrote T-Shirt der bestens gelaunten schwedischen Rentnerinnen-Truppe.
Bitte mehr Einwohner auf die Inseln
Berührungsängste kennt Spitzenkoch Michael Björklund nicht, Spitzname Micke.
"Ja, Ja. 2020 habe ich 'Survivor' gewonnen, die schwedische Version von 'Holt mich hier raus, ich bin ein Star.' Die Leute wissen jetzt: 'Ah, Micke ist nicht nur Koch, sondern auch Survivor, ein Überlebender'. Sie denken sich: 'Aha, er kommt von Åland? Da war ich noch nie. Welche Sprache sprechen die überhaupt? Kann ich da hinziehen?'", erzählt er.
"Das ist mir extrem wichtig. Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Leute nach Åland ziehen. Bislang sind wir ja nur 30.000. 60.000 - das wäre viel besser. Auch für mein Restaurant. Also 60.000 wären super, keine 100- oder 150.000. Das wäre zu viel."
Möglichst lokale Zutaten, sein berühmter Hering. Möglichst frisch aus der Ostsee. Zu Mittsommer stehen sie in Mickes Restaurant Schlange. Doch "Smakbyn" alleine würde sich nicht tragen.
"Unser Lebensstandard ist fast schon zu hoch"
Deshalb hat der selbst ernannte „kulinarische Botschafter“ Ålands auf dem finnischen Festland diverse Ableger, darunter zwei in Helsinki, bei Stockmanns, dem Nobelkaufhaus. Ab und zu schaut er dort nach dem Rechten, doch sein Stammhaus in Sichtweise des mittelalterlichen Schlosses ist und bleibt sein Dreh- und Angelpunkt.
"Ich würde sagen: Unser Lebensstandard ist fast schon zu hoch. Gerade im Vergleich zu Schweden und Finnland. Uns geht es so viel besser. Unsere Schulen sind super. Kleine Gruppen, genügend Personal. Oder wenn du krank bist. Spätestens nach drei Stunden hast du einen Termin im Krankenhaus. Genau das Gleiche bei Bankgeschäften. Wenn du ein Problem hast, rufst du einfach deinen Banker an. Oder zur Not den Wirtschaftsminister und sagst: 'Hör mal, ich habe dieses Problem, was kann ich tun?' Verrückt, nicht? Das wäre in Schweden und Finnland undenkbar."
Serben, Balten, Polinnen: Mickes Team ist bunt zusammengewürfelt. Ein bisschen ist das auch aus der Not geboren. Jeder fünfte seiner Belegschaft hat seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie gekündigt. Weil sie oder er einen neuen Job gefunden hat, einen weniger stressigen, besser bezahlten.
Optimale Work-Life-Balance
Micke hat darauf reagiert und für Neulinge ein innovatives Arbeitszeitmodell eingeführt. Wer vier Tage am Stück arbeitet, hat danach sechs Tage frei – bei vollem Lohn. Viele seiner Angestellten konnten ihr Glück kaum fassen, doch finnische Kellnerinnen und Servicekräfte zu finden für seine finnischsprachigen Sommergäste, bleibt weiter schwierig. Trotz optimaler Work-Life-Balance.
Ich liebe das. Besonders, wenn ich überarbeitet bin. Dann übernachte ich in meinem Zelt, direkt am Meer. Das Einzige, was du da hörst, ist: gluck-gluck-gluck. Das ist ein Gefühl. Einfach unbeschreiblich. Es ist so schön.
"Mit Finnland ist es nicht so einfach. Es existiert da immer noch dieses Missverständnis. Viele auf dem Festland denken: Als Finne darf ich nicht nach Åland ziehen, kein Grundstück kaufen. Oder: Ich muss Schwedisch können. Dabei sollte sich längst herumgesprochen haben: Doch, du kannst dich als Finne oder Finnin hier niederlassen", sagt er.
"Meine Mutter stammt aus Finnland. Sie ist finnischsprachig. Als wir klein waren, meinte sie: Ihr braucht kein Finnisch zu lernen. Das bringt nichts. Deshalb hat sie nie mit uns Finnisch gesprochen. Das war dumm. Heute wissen wir: Je mehr Sprachen du sprichst, desto größer deine Chancen, es zu etwas zu bringen."
Die letzten zwei Jahre haben Micke Einiges abverlangt. Monatelang waren seine Restaurants geschlossen, letztes Jahr ging dann auch noch zu allem Überfluss Stockmanns – das Kaufhaus – pleite, war lange Zeit unklar, was aus seinen zwei Restaurants dort wird. Es war die Zeit, als er irgendwann die Nase voll hatte und sich tagelang auf seinem Inselgrundstück verschanzte.
"Ich liebe das. Besonders, wenn ich überarbeitet bin. Dann übernachte ich in meinem Zelt, direkt am Meer. Das Einzige, was du da hörst, ist: gluck-gluck-gluck. Das ist ein Gefühl. Einfach unbeschreiblich. Es ist so schön."
Ungeliebte russische Tradition auf Åland
In die Natur treibt es in letzter Zeit auch Graham Robins vom Geschichtsmuseum. Allerdings weniger wegen eines „gluck-gluck-Gefühls“, sondern wegen der Arbeit. Wegen Bomarsund, der russischen Befestigungsanlage aus dem 19. Jahrhundert. Den Ruinen.
Die Vorstellung, dass die russische Geschichte auf Åland lebendig und präsent ist, wird nicht wirklich geschätzt.
Die Zeit unter schwedischer Herrschaft war gut, die unter russischer schlecht. Das stimmt so nicht. Findet der Archäologe. Beliebt macht sich der gebürtige Brite damit nicht.
"Die Vorstellung, dass die russische Geschichte auf Åland lebendig und präsent ist, wird nicht wirklich geschätzt. Ich bereite gerade die Ausstellung für das neue Besucherzentrum von Bomarsund vor. Anfangs habe ich darüber einen Blog geschrieben, doch nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine hieß es: Vielleicht solltest du das lieber lassen. Es geht ja um die russische Besatzung Ålands im 19. Jahrhundert, ein sensibles Thema. Mein Boss und ich haben uns deshalb auch entschieden, nur Exponate auszustellen, die keinen Bezug haben zum militärischen Aspekt der russischen Besatzung."
Graham zeigt auf die Kartons auf dem Fußboden seines Büros. Darin lauter historische Postkarten, er muss sie noch sortieren – für die Ausstellungseröffnung. Er seufzt leise. Ganz schön viel Stress. Doch das dürfte sich bald wieder legen, wenn das neue Besucherzentrum Mitte des Monats eröffnet ist.
"Ich denke, in Großbritannien sind die Umgangsformen vergleichsweise rauer und aggressiver. Bei der Arbeit und im Alltag. Auf Åland sind alle sehr entspannt. Das ist angenehm, besonders, wenn du eine junge Familie hast. Für Jugendliche mag es allerdings etwas langweilig sein, deshalb ziehen viele weg. Aber etliche kommen wieder zurück, sobald sie verheiratet sind und eine Familie gründen wollen."
Mit der russischen Tradition, der ungeliebten, hat auch Grahams Kollegin Julia Nyman zu tun. Sie leitet das Post- und Zollmuseum ganz im Westen der Hauptinsel. An guten Tagen kann man von hier das schwedische Festland sehen.
"Dieses Gebäude ist so groß und pompös, weil Russland zeigen wollte: Ihr betretet jetzt den Boden dieses großen und mächtigen Imperiums. Es war definitiv eine Machtdemonstration. Besucherinnen und Besucher, die nichts über die Geschichte des Gebäudes wissen, sind immer baff. Sie fragen: 'Was macht dieses Riesengebäude am Ende der Welt? Noch dazu aus Stein?' Es war ja sehr teuer, vor 200 Jahren ein solches Steingebäude zu errichten. Also ja: Die meisten Leute sind überrascht. Und haben viele Fragen."
Das Schicksal der Ukraine bewegt auch hier
Neben der Dauerausstellung laufen gerade zwei Sonderausstellungen. Die eine feiert das 20. Jubiläum von SALT, dem Künstlerinnen-Kollektiv. Die andere Design "Made in Åland". Und auch hier gibt es einen Bezug zu Russland, einen aktuellen.
"Es befindet sich im anderen Raum. Wir können da ja mal hingehen. Es ist eine kleine Kupferplatte in den Umrissen der Ukraine – mit einem Einschussloch in der Mitte. Eine lokale Goldschmiedin hat die Kette gemacht. Im Vorfeld hat sie mich gefragt: 'Wäre das etwas für euch?' Und ich nur: 'Absolut'. Kunstgewerbe reflektiert ja das, was die Gesellschaft bewegt. Ich denke, es ist gut, dass die Kette Teil unserer Ausstellung ist."
Auch Julia ist „Zugereiste“, eine schwedischsprachige vom finnischen Festland. Und auch sie weiß die Vorzüge des Inseldaseins zu schätzen. Besonders seit Isidor auf der Welt ist, ihr zweijähriger Sohn.
Cool und eigensinnig - das ist Åland
Eine Kita zu finden sei einfach gewesen, meint die Frau mit dem Tattoo in Form einer Eule, draußen auf dem kopfsteingepflasterten Hof. Nur, dass sie für den Kita-Platz 240 Euro im Monat zahlen müsse, statt 140 wie auf dem Festland, da habe sie schon schlucken müssen. Ansonsten aber alles prima. Mit einer Ausnahme.
"Das Einzige, was ich vermisse, ist die Untergrundmusikszene. Ich mag Punkmusik. Es gibt schon eine kleine Szene auf Åland, aber die Gigs kannst du an einer Hand abzählen. Also das vermisse ich wirklich. Aber ansonsten: Alles klasse. Außer, dass eben vieles teurer ist als auf dem Festland."
Letztes Wochenende war Julia zusammen mit ihrem Mann in Stockholm, Isidor bei den Schwiegereltern. Nur zwei Tage, aber Zeit genug für einen Abstecher ins Naturkundemuseum. Und in einen Club. Einen alternativen Club. Ganz schön cool, meint sie. Cool und eigensinnig. Wie Åland, die Insel des Friedens.