Rückgriff auf die Erfahrungen der Vordenker

Rezensiert von Thomas Meyer |
Kaum ist das 20. Jahrhundert vorbei, so scheinen all die Erfahrungen mit Ideologien und diktatorischen Regimen vergessen, beklagt sich Tony Judt. Der Professor aus New York stellt in zehn Porträts wichtige Denker und Aufklärer des vorigen Jahrhunderts vor und zeigt ihre Bedeutung für unsere Zeit.
Tony Judt, globaler Intellektueller in New York, legt eine Sammlung faszinierender Essays und Biografien unter dem Titel: "Das vergessene 20. Jahrhundert" vor. Es ist das Werk eines unbeirrbaren Aufklärers gegen die Illusionen seiner- unserer- Zeit:

"Die gefährlichste Illusion heutzutage ist diejenige, die allen anderen zugrunde liegt. Nämlich die Vorstellung, dass wir in einer beispiellosen Zeit leben, Neues und Unwiderrufliches erleben und dass die Vergangenheit uns nichts zu sagen hat, allenfalls nach geeignet erscheinenden Präzedenzfällen durchstöbert wird."

Judt zeigt uns, was aus der Geschichte des 20. Jhs für die Geschicke des 21. unbedingt zu lernen wäre, damit sich vergangenes Verhängnis nicht wiederholt.

Ein scheinbares Paradoxon vorweg: Während der Autor davon handelt, dass die Epoche der zeitmächtigen Intellektuellen nun vergangen sei, führt er uns in und mit seinem eigenen Werk in Wahrheit ein weiteres Mal eindrucksvoll vor, wie diese unverzichtbare Rolle auch heute noch überzeugend gefüllt werden kann.

Am Anfang stehen zehn Portraits vorwiegend jüdischer, wahrhaft europäischer Intellektueller: Arthur Koestler, Primo Levi, Manes Sperber und Hannah Arendt ragen hervor. Sie sind "Zeugen der Finsternis" - Koestler und Sperber als Verfallene der kommunistischen Versuchung, die sich bald als Verderben entpuppte und zu deren historischer Entzauberung dann gerade sie selbst das Entscheidende beigetragen haben. Hannah Arendt als Analytikerin des Bösen und Primo Levi, der die Hölle der Lager erlitt und unvergessbar Zeugnis von ihr ablegte.

Judt zeigt, dass nicht Anklage oder demonstrative Moral das epochale Wirken dieser Intellektuellen bestimmte, sondern Gegenwärtigkeit, Unbestechlichkeit und die Fähigkeit, sich dem Leiden der Zeit und ihrer Menschen noch im Kleinsten kompromisslos zu stellen.

Die vergessene Lektion dabei ist, dass selbst die größten Geister in der ersten Hälfte dieses ideologischen Jahrhunderts der kommunistischen Verheißung verfielen, weil sie in ihr in ihrer Zeit den letzter Ausweg aus dem Dilemma von orientierungslos gewordenem Liberalismus und faschistischen Vernichtungswillen sahen. Sie waren dann aber auch die Ersten, die den Mut und die Fähigkeit hatten, durch das schonungslose Zeugnis, das sie über ihre eigenen Irrtümer ablegten, ihrer Zeit und uns die Augen zu öffnen. Die Verführbarkeit selbst indes, das ist die Botschaft, bleibt eine dauernde Wirklichkeit.

Der oft unterschätzte Primo Levi hat nach dem Urteil Judts authentischer als andere Zeugnis von Welt und Wesen der Konzentrationslager abgelegt, weil er sich der "jüdischen Pflicht des Erinnerns" unterzog und Augenzeuge blieb, statt Richter zu sein:

"Primo Levi ist ein besonderer, einzigartiger, vielleicht der wichtigste Zeuge des Holocaust, weil er ganz anders darüber schreibt; sein Zeugnis hat eine vierte Dimension, die man in anderen Memoiren von Überlebenden vergeblich sucht. Thaddäus Borowski ist zynisch und hoffnungslos, Jan Améry zornig und rachsüchtig, Elie Wiesel spirituell und überlegt, Jorge Semprun abwechselnd analytisch und literarisch. Levis Darstellung ist komplex, empfindsam, gelassen und zugleich kühler als die anderen Erinnerungen – weshalb sie, wenn sie plötzlich die Hitze unterdrückten Zorns ausstrahlt, vernichtender wirkt als alle anderen!"

Diese Überlegenheit resultiert aus dem Verständnis untilgbarer moralischer Ambivalenz als conditio humana. Eine breite Grauzone der Fehlbarkeit erstreckt sich zwischen den großen Übeltätern und den reinen Opfern. Daher kann das Lager weder Metapher für das Leben selbst sein, das wäre der endgültige Triumph der SS, noch ein schwarzes Loch, aus dem kein Licht mehr dringt. Es gibt vieles zwischen Böse und Gute. Und die Barbarei ist nie völlig abwesend.

Die Juden Europas haben als Ausgeschlossene und Opfer das 20. Jahrhundert exemplarische erlitten. Deshalb ...

"...sind die historischen Erinnerungen einer marginalen Gemeinschaft, die vom Wirbelsturm erfasst wurde, vielleicht der beste Führer zu unserem Zeitalter. Man muss kein Jude sein, um die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert zu verstehen – aber es hilft ungemein".

Und dennoch, in dem palästinensischen Weltbürger Edward Said spiegelt Judt sein eigenes Selbstverständnis am klarsten. Zwar teilt er dessen legendäre Orientalismus-These nicht, rühmt aber die unbeugsame Haltung, mit der er ein anderes Licht auf den verhängnisvoll verknoteten Nah-Ost-Konflikt geworfen hat, ohne sich je von den politischen Akteuren der palästinensischen Seite vereinnahmen zu lassen.

Saids Vorwurf, der Westen ignoriere das Leid der Palästinenser, überzeugt über alle politischen Lagergrenzen hinweg, weil er den Anteil verfehlter Politik und versäumter Chancen auf der eigenen Seite unerschrocken benennt. Obgleich unermüdlicher Ankläger des Umgangs der Welt mit dem eigenen Volk, ist er doch glaubwürdig geblieben, indem er nie restlos in einer Sache aufging, auch nicht in seiner eigenen. Das ist das Maß für intellektuelle Größe und Wirkung.

Mit großer Leidenschaft widmet sich Tony Judt dann dem Schicksal der sozialen Demokratie in den USA und Europa. Vernichtend sein Urteil über die ehedem liberalen Intellektuellen seines Gastlandes bis hin zu Michael Walzer, die einst ihre Stimme für soziale Demokratie und verantwortliches Regieren , für Völkerrecht, und moralisch vorbildliches Handeln erhoben, unter George W. Bush sich aber rückgratlos im vermeintlichen Krieg gegen den Terrorismus zu "nützlichen Idioten" einer verfehlten Politik machen ließen, jederzeit bereit sich in den Kampf gegen den angeblichen "Islamofaschismus" als neuem ideologischen Feindbild unserer Epoche zu werfen.

Es sind aber solche Passagen, die den irritierten Rezensenten gelegentlich fragen lassen, ob hier der Wille zur Anklage, dem eigentlichen Vorsatz des Autors entgegen, nicht doch seine Fähigkeit zur Differenzierung und Distanz über Gebühr in Mitleidenschaft zieht.

Und doch ist ihm zuzustimmen, wenn er Europa eindringlich davor warnt, sich solches Denken zu eigen zu machen - ist doch der Islam für das moderne Europa kein äußerer Rivale mehr, sondern längst Teil der inneren Verfassung.

Am Ende beschwört Tony Judt die Europäer - nicht durch Appelle, sondern durch akribische Vergleiche der Lebenslagen zu beiden Seiten des Atlantik - ihre im Hinblick auf die praktische Freiheit der meisten Menschen den USA weit überlegene soziale Demokratie unter keinen Umständen aufs Spiel zu setzten.

Auch dabei kann vor allem genaues Erinnern helfen. Wurde der Sozialstaat im 20. Jahrhundert doch als ein großer historischer Kompromiss errichtet, um Frieden und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen, die ohne ihn immer auf dem Spiel standen.

"Paradox ist, dass eben jener Erfolg des Sozialstaats, der für soziale Stabilität und ideologische Entspannung gesorgt und damit den Wohlstand der letzten 50 Jahre erst möglich gemacht hat, eine jüngere Generation dazu geführt hat, diese Stabilität als selbstverständlich anzusehen und nach der Abschaffung staatlicher Steuer- und Interventionsinstrumente zu rufen Wir haben ... das politische Denken verlernt".

Kein Zweifel, Tony Judts historische Lektionen können uns dabei helfen, solches Denken aufs Neue zu erlernen.

Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen
Hanser Verlag, München 2010