Marie-Hélène Lafon: "Die Annonce"

"Bauer sucht Frau" auf Französisch

06:23 Minuten
Buchcover zu "Die Annonce" von Marie-Hélène Lafon auf orangefarbenem Aquarellhintergrund.
"L'Annonce" wurde 2015 von Arte verfilmt. © Rotpunktverlag / Deutschlandradio
Von Sigrid Brinkmann · 07.07.2020
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Eine nicht mehr ganz junge Mutter mit Kind zieht aus dem Norden in die Auvergne und erlebt, wie eine „Sippe“ ihre Hausmacht ausübt. Der 2015 verfilmte Roman „Die Annonce“ ist das deutschsprachige Debüt der Schriftstellerin Marie-Hélène Lafon.
Mit achtzehn Jahren verließ Marie-Hélène Lafon den Bauernhof der Eltern in der Auvergne, um in Paris Altgriechisch und Latein zu studieren. Seit 1980 lebt sie in der Hauptstadt, arbeitet als Lehrerin und Schriftstellerin, die sich ihre ursprüngliche Verbundenheit mit der Landschaft des Cézallier immer erhalten hat.
Die Schönheit der Natur kontrastiert scharf mit der Härte der bäuerlichen Lebensweise. In ihren Büchern erzählt Lafon vom sturen Kampf junger wie alter Bauern gegen den Untergang ihres "Urberufes". Sie sind verschwiegen und einsam, bleiben unter sich und sehen zu, wie unverheiratete Familienangehörige altern und dabei seelisch "verwildern".

Der Mut zur Liebe

Bis weit ins 20. Jahrhundert lebte noch ein Drittel aller Franzosen von der Landarbeit. Heute sind es lediglich zwei Prozent. Deshalb lässt die Autorin den Protagonisten ihres Romans "Die Annonce" mutmaßen, man warte "an höherer Stelle" vielleicht nur darauf, "dass Bauern wie er verschwanden, dass alles aufhört und das Brachland die Dörfer auffrisst".
Der Roman spielt auf einem Hof, den der Neffe zwei ledig gebliebener, alter Brüder bewirtschaftet. Die ehelose Nichte führt den Haushalt, bis ihr Bruder für alle überraschend "nach dem Kaffee in drei Sätzen verkündete, er werde im Frühjahr einige Renovierungsarbeiten im oberen Stockwerk vornehmen, wo Ende Juni Annette zu ihm ziehen würde, eine siebenunddreißigjährige Frau aus Bailleul im Norden, mit ihrem elfjährigen Sohn".
Der feste Wille, nicht allein zu bleiben, hatte Paul angetrieben, eine Kontaktannonce aufzugeben. Sein Mut zu lieben, verändert für ihn alles, während Schwester und Onkel stur "ihr Revier" verteidigen und durch die "fremden Körper" der neuen Mitbewohner hindurchsehen.

Rettung auf dem Land

Es ist klug, das Augenmerk nicht nur auf die Misere überkommener Lebensvorstellungen in einer abgelegenen Region Zentralfrankreichs zu richten, sondern die schwierige Lebenssituation von Menschen aus dem französisch-belgischen Grenzgebiet miteinzubeziehen. Lafon gelingt das komplexe Porträt einer ungelernten Arbeiterin aus dem Norden, die in Fabriken und Supermärkten jobbte, dem Sohn verheimlichte, dass sein Vater im Gefängnis einsaß und auf die Annonce antwortete, weil ein Leben auf dem Land Rettung versprach.

Kitschfreier Liebesroman

Der von Andrea Spingler kongenial ins Deutsche übersetzte Roman ist eine unprätentiöse Milieustudie und ein zarter, völlig kitschfreier Liebesroman. Für Lafons Erzählstil typisch sind lange, nur durch Kommata getrennte Satzketten. Es wirkt so, als spräche sie zu uns - beiläufig, aber mit einer gewissen Dringlichkeit.
Der Bauer und die Hilfsarbeiterin müssen den Mut finden, ihre Patchworkfamilie offensiv zu verteidigen. Pointiert beschreibt Lafon, wie mitleidlos und selbstherrlich eine "Sippe" ihre Hausmacht ausübt. Sie scheut sich nicht, ein Kind zu demütigen und vergiftet durch ihr Misstrauen das Leben aller. Unmerklich, aber bestimmt, rückt die Autorin das sensible Kind ins Zentrum des Romans. Es führt den Erwachsenen vor Augen, dass man für Unentschiedenheit einen Preis zahlen wird.
Souverän hält Marie-Hélène Lafon den Ausgang der vielschichtigen Narration in der Schwebe. Dennoch bleibt "Die Annonce" ein Abgesang. Eindrucksvoll und ohne Bedauern lässt sie archaisch anmutende, bäuerliche Lebensweisen untergehen.

Marie-Hélène Lafon, Die Annonce, Roman
Aus dem Französischen von Andrea Spingler,
180 S., 22 €
Rotpunktverlag, Zürich

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