Ronald Gerste: "Wie Krankheiten Geschichte machen"

Kurzsichtig in die Schlacht

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Cover von Ronald D. Gerstes Buch "Wie Krankheiten Geschichte machen: Von der Antike bis heute". Im Hintergrund ist Pieter Meuleners Gemälde "Verwundung König Gustav Adolphs von Schweden" zu sehen.
Der schwedische König Gustav II. Adolf starb am 16. November 1632 in der Schlacht bei Lützen. © Deutschlandradio / Klett-Cotta / dpa / picture-alliance / akg / Pieter Meulener
Von Edelgard Abenstein · 02.05.2019
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Was wäre passiert, wenn Schwedenkönig Gustav Adolf nicht wegen seiner Kurzsichtigkeit niedergemetzelt worden wäre? Der Medizinhistoriker Ronald Gerste wagt spannende Gedankenexperimente und zeigt, wie Krankheiten die Geschichte der Menschheit bestimmten.
Es kann nur von Vorteil sein, wenn Autoren in mehreren Disziplinen zuhause sind. Für den Arzt und Historiker Roland D. Gerste zahlte sich diese Allianz aus natur- und geisteswissenschaftlichen Kenntnissen schon in seinem Bestseller "Wie das Wetter Geschichte macht" (2015) aus. Darin untersuchte er aus meteorologischer Sicht historische Schlüsselereignisse und ging der Frage nach der Wirkmacht des Wetters nach. Auch in seinem neuen Buch nimmt er die Willkür der Natur in den Blick.

Berühmte Patienten und ihr früher Tod

Er zeigt, wie die Krankheiten von Machthabern die Geschichte der Menschheit bestimmten, von der Antike bis heute, von Alexander dem Großen bis Hillary Clinton. Es sind durchweg berühmte Patienten, die er auf ihrem Leidensweg begleitet, um eine mit dem vorzeitigen Tod einhergehende fatale oder auch glückliche, jedenfalls stets schicksalshafte Wendung zu beschreiben.
Da ist der Preußen-Kaiser Friedrich III. Dessen finale Erkrankung an Kehlkopfkrebs machte bereits nach 99 Tagen Amtszeit alle Hoffnungen eines liberalen Bürgertums auf eine konstitutionelle Monarchie zunichte. Oder der Schwedenkönig Gustav Adolf. Womöglich hätte er auf seinem Siegeszug durch Europa den 30-jährigen Krieg vorzeitig beendet, wäre er nicht einer vergleichsweise kleinen Störung wegen – er war kurzsichtig – während des Schlachtengetümmels hinter den feindlichen Fronten niedergemetzelt worden.

Geschichtsschreibung im Konjunktiv

Dann gibt es noch die als "Bloody Mary" in die Annalen eingegangene Mary Tudor, die England im 16. Jahrhundert mittels der Inquisition brutal in eine Bastion des katholischen Glaubens zurückverwandeln wollte. Ohne ihren frühen Tumortod hätte die konfessionelle Landkarte Europas anders ausgesehen – und wir hätten keinen Shakespeare. Auch Franklin D. Roosevelts unerwarteter Tod 1945 war ein Glücksfall – zumindest für das gerade besiegte Deutschland. Kam es doch dank dessen Nachfolgers Harry Truman in den Genuss des den Wiederaufbau garantierenden Marshallplanes.
Wie es sich für einen Arzt gehört, erstellt Gerste zunächst die historische Diagnose. Wohlwissend, dass die personenorientierte Geschichtsschreibung in der Zunft nicht den besten Ruf genießt, gibt er in kurzweilig erzählten, mit durchschnittlich zehn Seiten leserfreundlichen Kapiteln, die Pathobiografien von Staatsoberhäuptern wieder. Um dann munter zu spekulieren. Er betreibt also eine Geschichtsforschung im Konjunktiv.

Die Nebeneffekte von Seuchen

Neben solchen biografischen Betrachtungen enthält das Buch auch Kapitel über die großen Seuchen der Menschheitsgeschichte: Cholera, Syphilis, Aids, Pocken, Grippe, Tuberkulose. Und auch da wägt der Autor ab zwischen den verheerenden Folgen etwa der Pest, die Europas Bevölkerung im Mittelalter um ein Drittel dezimierte, und dem "Segen" – in diesem Fall, dass plötzlich als Grundstücks-Erben auch Töchter in Frage kamen.
Gerstes Gedankenexperimente, mit denen er sich abseits der konventionellen Wissenschaft bewegt, sind durchaus reizvoll. Allerdings befindet er sich, mit Blick auf die Standardwerke der Zunft – bei der Erörterung der Gründe für den Ersten Weltkrieg etwa – nicht immer auf der Höhe aktueller Publikationen. Was aber der spannenden Lektüre keinen Abbruch tut.

Ronald D. Gerste: "Wie Krankheiten Geschichte machen. Von der Antike bis heute"
Klett-Cotta, Stuttgart 2019
381 Seiten, 20 Euro

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