Thomas Gnielka: Die Geschichte einer Klasse. Als Kindersoldat in Auschwitz
Romanfragment. Mit einer Dokumentation.
Hg. von Kerstin Gnielka und Werner Renz
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2015
184 Seiten, 19,90 Euro
Wie ein Flakhelfer den Schrecken von Auschwitz erlebte
Als 15-Jähriger wurde Thomas Gnielka zur Wehrmacht eingezogen und als Luftwaffenhelfer am KZ Auschwitz eingesetzt. In einem Romanfragment, das jetzt veröffentlicht wird, hat er sich an der zerstörerischen Kriegserfahrung abgearbeitet.
Dieses Romanfragment hat etwas Elektrisierendes. Der Autor, der 1928 geborene Thomas Gnielka, hat es als kaum Zwanzigjähriger geschrieben, nachdem er als 15-Jähriger zur deutschen Wehrmacht eingezogen worden und als Luftwaffenhelfer am KZ in Auschwitz eingesetzt war. Es ging um den Schutz der dortigen IG Farben-Werke gegen Fliegerangriffe, und die Kindersoldaten bekamen die Haftbedingungen im Konzentrationslager dabei sehr genau mit.
Thomas Gnielka, der zusammen mit seiner Schulklasse aus einem liberalen Berliner Gymnasium im Januar 1944 dorthin abkommandiert war, arbeitete sich Zeit seines erschreckend kurzen Lebens an diesem Trauma ab. Er versuchte zunächst, seine Erlebnisse in einem Roman zu verarbeiten - "Die Geschichte einer Klasse" stand als Titel dafür früh fest -, aber gleichzeitig recherchierte er journalistisch die Vorkommnisse im KZ Auschwitz und war Ende der 50er-Jahre mit einer Artikelserie in der "Frankfurter Rundschau" der Hauptauslöser dafür, dass der große Frankfurter Auschwitz-Prozess Anfang der 60-Jahre überhaupt möglich wurde. Im Film "Im Labyrinth des Schweigens", der davon handelt und zur Zeit in den Kinos läuft, taucht Thomas Gnielka als eine der zentralen Figuren auf.
Er starb bereits Anfang 1965, als 36-Jähriger, an Hautkrebs - dass es dabei einen Zusammenhang mit seiner Kriegserfahrung und seiner intensiven Auseinandersetzung mit den NS-Tätern gab, war für seine Angehörigen und Kollegen evident.
Das Grauen zwischen den Zeilen
Es sind etwa 80 Druckseiten, die sein erst jetzt veröffentlichtes Romanfragment umfasst - eine Passage daraus wurde davor nur 1952 in einer kurzlebigen Zeitschrift gedruckt, die als Hausblatt der Gruppe 47 gedacht war. Es ist eine präzise, lakonische, hyperrealistische Prosa mit vielen Dialogen und extrem zugespitzten Stimmungsbildern. Man merkt in jedem Satz, ja in jedem Wort, dass die Kriegserfahrung hier etwas Zerstörerisches hatte, dass sie an einen Abgrund führte; es gibt keinerlei Hauch von etwas "Heldischem" oder Romantisch-"Kameradschaftlichem".
Dabei wird das Grauen selbst kaum beschrieben. Aber es wird auf bedrängende Weise zwischen den Zeilen evoziert. Es ist frappierend, mit welch avanciertem ästhetischen Formverständnis Gnielka hier durch Auslassung, durch Verknappung operiert und eine ungeheure Wirkung erreicht. Dass es sich um Auschwitz handelt, wird mehrfach konkret benannt. Hier gibt es kein Ausweichen.
Aufsehenerregend ist dieses Romanfragment auch dadurch, dass Gnielka daraus im Mai 1952 auf einer Tagung der Gruppe 47 gelesen hat - es war dieselbe Tagung, an der auch Paul Celan, der berühmte Lyriker der "Todesfuge", teilnahm. Celan hat gehört, wie Gnielka hier der deutschen Schuld auf den Grund geht, ganz anders als bei den herrschenden Medien und Institutionen außerhalb der Gruppe 47 in der frühen Bundesrepublik. Und das erklärt zu einem gewissen Teil, warum die Gruppe 47 für Paul Celan im Vergleich eher positiv besetzt war - ganz im Gegensatz zu einer Legendenbildung, die erst in den 90er-Jahren einsetzte und die Gruppe 47 suggestiv mit Antisemitismus in Verbindung bringt. Wenn es im Literaturbetrieb dieser Zeit überhaupt einen Ort gab, an dem über die deutschen Verbrechen, über den Massenmord an den Juden gesprochen wurde, dann war das die Gruppe 47. Der damals sehr zustimmend aufgenommene Romanauszug von Thomas Gnielka ist ein Beweis dafür.