Auschwitz-Prozesse

Lebenslüge der Wirtschaftswundergesellschaft

Der Angeklagte Oswald Kaduk wird von drei Polizisten in einen Gerichtssaal geführt.
So war es in der Realität: Der Angeklagte Oswald Kaduk (Mitte) zum Auftakt des Auschwitz-Prozesses. © picture alliance / dpa / dpa team
Von Stefan Keim · 03.11.2014
Erst in den 60er-Jahren begannen die Auschwitz-Prozesse Deutschland zu verändern, die bestialischen Verbrechen der Nazis wurden öffentlich. Wie es zu diesen Prozessen kam, erzählt der Film "Im Labyrinth des Schweigens". Ist Regiedebütant Giulio Ricciarelli dem großen Thema gewachsen?
"Da draußen läuft ein Mörder frei herum, Mitglied der Waffen-SS, war im Krieg in Auschwitz. Der arbeitet jetzt als Lehrer und unterrichtet Kinder. Interessiert Sie das? – Sie sind wirklich ein herrlicher Brausekopf. – Gnielka, ich will jetzt gehen. Das ist doch alles sinnlos."
Der Journalist Thomas Gnielka kann es nicht fassen. Er präsentiert den Staatsanwälten im Gerichtsgebäude einen Augenzeugen, einen ehemaligen KZ-Häftling, der seinen Peiniger wieder erkannt hat. Doch niemand will ihm zuhören. Nur einer schaut nicht weg, ein junger Staatsanwalt, der sich eigentlich um Verkehrsdelikte kümmern soll, Johann Radmann. Noch ist er ahnungslos.
"Der war in Auschwitz stationiert. Wissen Sie denn nicht, was das heißt? – Was meinen Sie? Das war doch ein Schutzhaftlager. – Da wurde niemand beschützt, glauben Sie mir. Ich fass es nicht, ich fass es nicht. Passen Sie auf! Schätzchen, Auschwitz, schon mal gehört? – Nein. – Das ist der Skandal. Sagt Ihnen das Wort Auschwitz etwas? – Nein, und ich muss weiter."
1958 wusste kaum jemand in der Bundesrepublik Deutschland etwas von den Grausamkeiten während der NS-Diktatur. Die Jugend tanzte Rock´n´Roll, die Reihe der Edgar-Wallace-Filme begann, das Wirtschaftswunder brachte Wohlstand. Ein Journalist und ein junger Staatsanwalt hätten keine Chance gehabt, die Verbrechen aufzurollen. Aber sie bekamen Unterstützung.
"Sogar Kanzler Adenauer hat klar zum Ausdruck gebracht, dass wir unter dieses unselige Kapitel einen Schlussstrich ziehen müssen. So ein Prozess wäre Gift. – Gift? Im Gegenteil. Dieses Totschweigen ist Gift. Gift für unsere junge Demokratie. Außerdem entscheide ich, wann diese Behörde einen Schlussstrich zieht."
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war Sohn jüdischer Eltern und floh vor den Nazis ins Exil nach Dänemark und Schweden, wo er mit Willy Brandt zusammen arbeitete. Mit taktischem Geschick und großem Mut war er maßgeblich am Zustandekommen des ersten Auschwitz-Prozesses beteiligt. Bauer sorgte auch für die juristische Rehabilitierung der Widerstandskämpfer vom 20 Juli 1944 und verriet dem israelischen Geheimdienst Mossad den Wohnort Adolf Eichmanns in Argentinien. Gert Voss, der kürzlich verstorbene Theatergigant, verkörpert Fritz Bauer im Film, es ist seine letzte Rolle. Voss spielt zurück haltend, die großen Dramen spielen sich in seinem Inneren ab, man sieht sie in den Augen, in der manchmal mühsam beherrschten Miene. Fritz Bauer sagt, wenn er sein Büro verlasse, betrete er Feindesland. Er weiß, dass zu viel Leidenschaft der Sache schadet.
"Herr Radmann, das ist ein Labyrinth. Verlieren Sie sich nicht."
Ganz normale Menschen haben das freiwillig getan
Im Gegensatz zu Fritz Bauer und dem schon 1965 verstorbenen Investigativjournalisten Thomas Gnielka ist Johann Radmann eine fiktive Figur. In ihm zieht Drehbuchautor und Regisseur Giulio Ricciarelli Elemente einiger realer Staatsanwälte zusammen. Für den Film ist das eine richtige Entscheidung. Denn so entsteht ein vielschichtiger Charakter, ein junger Mann, der sich eigentlich mit seiner hübschen Freundin ins Leben stürzen will aber die Bedeutung seiner Aufgabe erkennt. Die Berichte der Zeugen sind so grausam, dass Radmann daran fast seelisch zerbricht.
"Der Junge stand neben dem Wagen und hat sich so über den Apfel gefreut. Da ist Boger zu dem Jungen gegangen, hat ihn an den Füßen gepackt und mit dem Kopf gegen die Baracke geschmettert. Dann hat Boger den Apfel aufgehoben und mir gesagt, ich soll das abwischen an der Wand. Und dann hat er diesen Apfel gegessen. Das war Alltag in Auschwitz."
Regisseur Ricciarelli verzichtet darauf, diese Erzählungen zu bebildern. Man sieht Menschen, für die es unendlich schmerzhaft ist, diese Erinnerungen wieder in den Kopf zu lassen und sie zu erzählen. Die Behutsamkeit der Inszenierung hat eine enorme Wirkung. Ähnlich wie im Dokumentarstück "Die Ermittlung" von Peter Weiss über die Auschwitz-Prozesse lösen die nüchternen Erzählungen Bilder in den Köpfen der Zuschauer aus, die man nicht weg schieben kann. Damit erfüllt der Film eine Forderung Fritz Bauers.
"Die Deutschen müssen sehen, was da für Verbrechen begangen wurden. Und zwar nicht nur von Hitler und Himmler, sondern von ganz normalen Menschen, ganz normale Menschen, die das freiwillig getan haben, weil sie davon überzeugt waren. Und die stellen wir jetzt vor Gericht. Ein großer Prozess. Das ist der Weg, glauben Sie mir."
Der Film hat kleine Schwächen. Die Musik ist manchmal überdramatisch und profillos. Ganz selten rutscht eine Szene ins Überdeutliche. Wenn der KZ-Verbrecher, der nun als Lehrer arbeitet, verhaftet wird, ist er gerade dabei, seine Schüler beim Sportunterricht in Mannschaften zu sortieren. Wie er früher an der Rampe in Auschwitz Menschen selektiert hat. Doch diese kleinen Einwände fallen kaum ins Gewicht angesichts der Bedeutung des Themas, dem Respekt, den Giulio Ricciarelli den Opfern erweist, dem Mut, auch die Schattenseiten der Zivilcourage zu zeigen.
Alexander Fehling spielt die Verzweiflung Johann Radmanns mit absoluter Glaubwürdigkeit, Friederike Becht vom Bochumer Schauspielhaus überzeugt als seine mitfühlende Freundin, die nicht auf ihr eigenes Leben verzichten will. Und um Gert Voss als Fritz Bauer zu beschreiben, sind alle Superlative lächerlich. Nur ein wahrhaft großer Mensch und Schauspieler kann diese Persönlichkeit in all ihrer Komplexität und Menschlichkeit so verkörpern wie Voss es tut. "Im Labyrinth des Schweigens" ist ein bedeutender Film.
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