Romane über Agentinnen und ihre Söhne

Meine Mutter, die Spionin

05:58 Minuten
Zwei Frauen im 50er-Jahre-Look sitzen auf der Terasse eines Cafés.
Von der eigenen Mutter auspioniert? Einige neue Romane handeln von Müttern, die als Agentinnen ihre Söhne jahrelang belogen haben. © Unsplash / Les Anderson
Von Sigrid Löffler · 16.04.2019
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Verlassen, verraten, getäuscht – wenn sich herausstellt, dass die liebevolle Mutter eine eiskalte Agentin war, bricht für die Söhne eine Welt zusammen. Auf einmal wird alles verdächtig. Es gibt derzeit auffallend viele Romane, die sich diesem Thema zuwenden.
In jedem Roman, der eine Mutter zur Hauptfigur macht, könnte der Satz stehen: "Meine Mutter war eine Naturgewalt." Erst recht, wenn er aus der Sicht eines Sohnes erzählt wird und wenn die eigene Mutter des Autors für den Roman Modell stand. Der Held und seine Mama – das ist seit Ödipus ein literarischer Evergreen mit mythischen Dimensionen. Die Gefühle von Söhnen für ihre Mütter sind wahre Geysire widersprüchlicher, tabuisierter Impulse: Lebenslang brodeln da heiße Mischungen aus Faszination und Fluchtimpuls, Sehnsucht nach dem Mutterschoß und Freiheitsdrang, Zärtlichkeit, Ohnmacht und Trauer, Hassliebe, Ressentiment, Scham und schlechtem Gewissen.

Die Macht der Mütter

Egal, ob sie die Mutter ironisch umschwärmen wie Péter Esterházy, sie posthum entschuldigen wie Martin Walser, über ihr erotisches Geheimnis rätseln wie Urs Widmer, gegen ihre Herrschsucht aufbegehren wie Hans Ulrich Treichel, mit ihr abrechnen wie Karl-Heinz Ott, neurotisch in ihrem dominanten Griff zappeln wie Attila Bartis oder Donald Antrim, ihren Selbstmord betrauern wie Peter Handke, Peter Härtling oder Amos Oz – die Mutter bleibt die dominierende Gestalt im Leben der Söhne. Mit der Mutter werden sie ihr Leben lang nicht fertig, ihre Macht wirkt fort, über den Tod hinaus, und wird bestenfalls eingeholt und befriedet durch die Verwandlung des Mutter-Komplexes in Literatur. Doch immer bleibt da ein nicht eingelöster Rest – der dämonische Aspekt der Mutter.

Die Mütter als dämonische Betrügerin

Auffallend, wie viele Romane neuerdings den Schock von Söhnen thematisieren, wenn sie plötzlich der dämonischen Abgründigkeit der eigenen Mutter gewahr werden, wenn sie erkennen müssen, dass sie von der Mutter getäuscht, betrogen und verraten wurden und sie ihr Leben lang verkannt haben.
Als wäre das literarische Genre der Mutter-Sohn-Romane mit seinen unendlichen Verwicklungen und Mehrdeutigkeiten nicht bereits kompliziert und ergiebig genug, lässt sich gegenwärtig ein neues Sub-Genre beobachten, das die Mutter in ein verwirrendes moralisches Zwielicht rückt und sich unter dem Stichwort subsumieren ließe: Der Held und seine Mama, die Spionin.

Kollateralschäden in einem rätselhaften Krieg

Der mütterliche Verrat fungiert in den neuen Romanen von András Forgách, Dirk Brauns oder Michael Ondaatje als ein erschreckender Intensitätsverstärker im ohnehin verworrenen und vielfältig belasteten Verhältnis zwischen Müttern und Söhnen. Da dreht sich plötzlich die Schraube noch weitaus schmerzhafter im Gefühlsgewinde. Aus der Sicht der betrogenen Söhne haftet diesen Spionage-Geschichten nichts Romantisches oder gar Heroisches an. Sie empfinden sich nur als Kollateralschäden in einem rätselhaften Krieg, den ihre Mütter aus undurchschaubaren Gründen anderswo ausfochten. Eines wird den verstörten Söhnen allerdings peinigend klar: Sie haben sich getäuscht, wenn sie sich von ihren Müttern geliebt glaubten.

Ein einziger kurzer Telefon-Anruf – und für András Forgách, den ungarischen Autor, Filmemacher und Übersetzer, stürzt die Welt ein. Ein Bekannter teilt ihm mit, er sei zufällig im Archiv des Innenministeriums in Budapest auf eine Akte gestoßen, aus der hervorging, dass Forgáchs Mutter eine Agentin war und für den ungarischen Geheimdienst Spitzeldienste geleistet habe.
Für den schockierten Sohn ändert diese Nachricht alles. Sein Mutterbild geht zuschanden. Er hat seine schöne und unkonventionelle Mutter abgöttisch geliebt und muss nun erfahren, dass sie ihn manipuliert und beispiellos verraten hat. Sie hat auch den eigenen Sohn ausspioniert, indem sie den Geheimpolizisten Zugang zu seiner Wohnung ermöglichte, damit sie dort eine Abhöranlage installieren konnten, um die Gespräche zwischen András und seinen Dissidenten-Freunden zu belauschen.
András Forgach: "Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin"
In Forgachs Roman erfährt ein Sohn, dass er von seiner Mutter abgehört wurde.© Cover: S. Fischer Verlag / Foto: picture-alliance / dpa / UPI

"Alles wird verdächtig"

Jetzt ringt der Sohn um eine Erklärung für Mutters unbegreiflichen Treuebruch. Mehr noch: Sein ganzes Weltbild ist erschüttert, in einem Augenblick wird all seinen Gewissheiten über seine Familie und sein eigenes Leben der Boden entzogen:
"Als würden sich von einer Minute zur nächsten die Gesetze von Perspektive und Gravitation ändern. Aber nicht nur die zusammen verbrachten Augenblicke werden dadurch geändert. Jeder andere Augenblick wird dadurch auch schutzlos und nackt, das Davor und Danach werden aufgelöst, die vertrauten Momente des Familienlebens eliminiert. Alles wird verdächtig, besonders die Schönheit, alles wird gewöhnlich. Alles wird wertlos, und man kann darüber nicht reden. Man kann nicht nicht darüber reden."

Kind zweier Agenten

Das Buch "Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin" thematisiert dieses Dilemma: Der Sohn liest das Geheimdienst-Dossier seiner verstorbenen Mutter und muss erkennen, dass er der Sohn zweier Stasi-Agenten ist. Von Anfang an arbeitete sein Vater, ein Journalist, nebenher als ungarischer Spion, unter dem Decknamen "Pápai". Und als der Vater wegen Geisteskrankheit ausfiel, trat die Mutter an seine Stelle, unter dem Decknamen "Frau Pápai". Zehn Jahre lang, bis fast zu ihrem Krebstod 1985, arbeitete sie als geheime Informantin der Staatssicherheit zu und bespitzelte auch die eigene Familie. Nun versucht der Sohn, sich im Lichte von Mutters Verrat die eigene Familiengeschichte neu, anders und wahrhaftig zu erzählen.
Schon einmal, 2007, wollte András Forgách Ordnung in das Durcheinander seiner chaotischen und über drei Kontinente verstreuten jüdischen Familie bringen, in Form einer Familien-Biografie auf Basis der Familien-Korrespondenz seiner Großmutter und der Briefe seiner Eltern aus der Anfangszeit ihrer Ehe. Jetzt musste er erkennen, dass seine Familienerzählung von 2007 auf einer Lüge beruhte und völlig neu geschrieben werden musste.
Es erging ihm damit ähnlich wie seinem Kollegen, dem ungarischen Autor Péter Esterházy. Der hatte in seinem gefeierten Roman "Harmonia Cælestis" seinem geliebten und verehrten Vater, dem Grafen Matyas Esterházy, ein literarisches Denkmal gesetzt und musste nach dem Tod des Vaters feststellen, dass der Graf dem Geheimdienst Spitzelberichte über die eigene Familie geliefert hatte. Péter Esterházy hat diese niederschmetternde Wahrheit in seinem Vater-Bericht "Verbesserte Ausgabe" aufgearbeitet, ganz ähnlich, wie es nun András Forgách in seinem Mutter-Bericht "Akte geschlossen" tut.
Cover von Dirk Brauns Buch "Die Unscheinbaren". Im Hintergrund ist ein Foto von einem Tisch zu sehen, auf dem eine Orchidee, eine Gießkanne, eine Kerze und ein Vintage-Telefon steht.
Dirk Brauns erlebte als Achtzehnjähriger, dass Stasi-Beamte im Februar 1965 seine Eltern weil sie jahrelang für den westdeutschen BND spioniert hatten.© Deutschlandradio / Galiani Berlin / Unsplash / Sebastien Le Derout
Für den Vater des ostdeutschen Autors Dirk Brauns, Rainer Brauns, kam der Schock viel früher, bereits zu Lebzeiten seiner Mutter. Als Achtzehnjähriger erlebte er, dass Stasi-Beamte im Februar 1965 seine Eltern in ihrem Ostberliner Haus verhafteten. Die Eltern hatten jahrelang in der DDR für den westdeutschen Bundesnachrichtendienst spioniert und waren aufgeflogen. Nach zwei Jahren Haft in Hohenschönhausen wurden sie freigekauft und übersiedelten in die BRD.

Lebenslanges Trauma

Für den zurückgelassenen Sohn Rainer Brauns ist die Verhaftung ein Schock, aber keine Überraschung. Im Roman "Die Unscheinbaren" seines Schriftstellersohnes Dirk Brauns, der aus der Geschichte seines Vaters und seiner spionierenden Großeltern eine Auto-Fiktion gemacht und ihnen andere Namen gegeben hat, liest man: "Dass seine Eltern Spione sind, weiß er seit langem. Er kennt keine Hintergründe, er kann es weder verstehen, noch wirklich einordnen oder beurteilen, aber er weiß es. Es ist der Fluch seines Lebens."
Der verlassene Sohn fühlt sich von den Eltern missbraucht und verraten. Das Trauma verfolgt und quält ihn bis in die Gegenwart. Der Kampf zwischen Mutter und Sohn währt ein halbes Jahrhundert und überspannt den ganzen Roman. Noch als fast Siebzigjähriger sucht der Sohn seiner inzwischen 92-jährigen Mutter die Wahrheit abzuringen. Es ist ein abgründiges Duell mit einer geradezu dämonisch verstockten und hochfahrenden Greisin, die, selbst in die Enge getrieben, den Sohn immer noch mit Lügen und Ausflüchten hinzuhalten sucht.
Das Buchcover des Romans "Kriegslicht" von Michael Ondaatje
In dem Roman "Kriegslicht" entdeckt ein Sohn erst nach vielen Jahren, dass die Mutter ihn verließ weil sie als Geheimagentin gegen Hitler kämpfte. © Hanser Verlag/dpa
Auch in Michael Ondaatjes Spionage-Roman "Kriegslicht", der als rein literarische Fiktion aus diesen semi-fiktionalen Familiengeschichten auch qualitativ heraussticht, steht am Anfang der kindliche Schock über den Betrug der Mutter. Im Nachkriegssommer 1945 lässt ein Elternpaar den kleinen Sohn, den Ich-Erzähler des Romans, und dessen Schwester in der Obhut von Fremden in London zurück, um angeblich nach Singapur zu fliegen. Doch der Überseekoffer, den die Mutter so ostentativ für Singapur gepackt hat, findet sich Monate später im Keller. Die Eltern haben ihre Kinder also im Stich gelassen und sind sonstwohin verschwunden. Damit stürzt das Grundvertrauen des Sohnes in die Erwachsenen-Welt ein. Er fühlt sich bodenlos verraten.
Erst viele Jahre später wird dem Sohn das Doppelleben seiner Mutter als britische Geheimagentin im Kampf gegen Hitler-Deutschland klar. Im Loyalitätskonflikt zwischen ihrer Familie und ihrem Land hat die Mutter den Treubruch an dem verlassenen Sohn in Kauf genommen für die vermeintlich übergeordnete Pflicht – den Schutz Englands.

Versuch, den Verrat zu verstehen

Derart hehre patriotisch-moralische Motive für ihren Verrat können die spionierenden Mütter bei András Forgách und Dirk Brauns nicht ins Treffen führen.
Forgáchs Mutter erscheint als die interessantere der beiden, eine faszinierend schillernde Figur – Jüdin aus Tel Aviv, aber feurige Anti-Zionistin und nach dem Umzug nach Budapest dogmatische Stalinistin bis zum Ende, draufgängerisch und fanatisch. Ihrem chaotischen Leben unter ewiger Finanznot und in ständiger Sorge um ihren geisteskranken Mann und ihre aufsässigen Kinder habe die Spitzelarbeit für den Geheimdienst so etwas wie Halt und Struktur verliehen, bemerkt der Sohn zu ihrer Entlastung.
Trotz allem Schmerz und aller Enttäuschung versucht András Forgách, den Verrat seiner Mutter zu verstehen und ihr schwieriges Leben zu rekonstruieren, ohne sie zu verurteilen. Sie saß zwischen allen Stühlen: als Genossin zu jüdisch, als Jüdin zu kommunistisch, als Kommunistin zu ungarisch, als Ungarin fremd.
Die Spitzel-Mutter bei Dirk Brauns hingegen nimmt in der Schäbigkeitsskala der Verratsmotive einen besonderen Platz ein. Ihre Verachtung für die DDR und ihre Bewunderung für die BRD gründen vornehmlich in ihrer Gier nach westlichen Konsumgütern. Offenbar hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann ihre Spitzel-Berichte für Pullach vor allem für ein Auto und einen Fernseher sowie für Strumpfhosen und Kaffee aus dem Westen geschrieben. Außerdem für ein West-Konto, auf das sie jedoch nach dem Mauerbau nicht mehr zugreifen konnte und das der Schwager in Westberlin ohnehin längst veruntreut hatte.

Erwähnte Bücher:
András Forgách: "Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin"
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Verlag S. Fischer, Frankfurt/Main 2019. 350 Seiten, 24 Euro
Dirk Brauns: "Die Unscheinbaren", Roman
Galiani Verlag, Berlin 2019. 352 Seiten, 20 Euro
Michael Ondaatje: "Kriegslicht"
Aus dem Englischen von Anna Leube
Hanser Verlag, München 2018, 320 Seiten, 24 Euro

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