Roman

Wie die Toten das Leben sehen

Der amerikanische Schriftsteller und Dramatiker Thornton Wilder (1897-1975); undatierte Aufnahme
Der amerikanische Schriftsteller und Dramatiker Thornton Wilder (1897-1975); undatierte Aufnahme © picture-alliance / dpa
Von Manuela Reichart · 10.12.2014
Für diesen schmalen Roman bekam Thornton Wilder den Pulitzer-Preis: In "Die Brücke von San Luis Rey" führt er seine Leser nach Peru, lässt fünf Menschen bei einem Unglück sterben und einen Mönch nach dem Sinn des Todes forschen.
In seinem berühmtesten Stück "Unsere kleine Stadt", uraufgeführt 1938, geht es um die Verbindung von Tod und Leben, darum, wie die Toten das Leben kommentieren und in ihm weiter existieren.
Bereits ein Jahrzehnt vorher wurde Thornton Wilder mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet für diesen schmalen Roman, in dem es um den Sinn von Tod und Leben geht Im Zentrum stehen fünf Reisende, die sterben, als die titelgebende Brücke von San Luis Rey einstürzt, am 20.Juli 1714 "um die Mittagszeit". Diese schönste Brücke von Peru - ihr reales Vorbild war die 1350 von den Inkas errichtete Brücke über den Rio Apurimac - "lag an der Straße zwischen Lima und Cuzco und wurde jeden Tag von Hunderten Menschen überquert (…) und jeder Besucher in Lima wurde hingeführt, um sie zu bewundern."
Was verbindet die fünf Toten?
Ein Franziskanermönch, der selber nur knapp dem Unglück entkommen ist, fragt sich, was diese fünf Menschen verbindet, ob es einen Sinn in ihrem Tod gibt, worin also die göttliche Vorsehung liegen könnte – und macht sich auf die Suche nach den Lebensläufen und Geschichten der fünf. Er liest Briefe und fragt Überlebende, sammelt Anekdoten und schreibt schließlich einen Bericht. Der fällt der Inquisition in die Hände, die ihn gemeinsam mit seinem Buch als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennt. Herausgefunden hatte dieser Bruder Jupiter nämlich, dass es allein Leidenschaften und Liebe waren, die die Menschen angetrieben hatten, Gefühle, die er nicht erfassen, die ihm den Sinn vom Tod nicht offenbaren konnten.
Am Ende ist es eine kluge Äbtissin, die alles Sterben, alle Geschichten zusammenfasst: "Es gibt ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe, sie allein überlebt, sie allein ergibt einen Sinn."
Thornton Wilders Roman, der jetzt endlich neu und hervorragend von Brigitte Jakobeit übersetzt vorliegt, stellt die großen Fragen nach dem Leben und dem Sterben. Gibt es eine Vorsehung und liegt irgendein erkennbarer Sinn im Ende der menschlichen Existenz. Gibt es einen Gott, der unsere Geschicke lenkt? "Die einen sagen, dass wir es nie wissen werden und dass wir für die Götter wie Fliegen sind, die Jungen an einem Sommertag töten; andere hingegen sagen, dass kein Spatz eine Feder verliert, die nicht zuvor von Gottes Hand berührt worden ist."
Berührender volksmärchenhafter Erzählton
Wilder (1887-1975) erzählt in einem berührenden volksmärchenhaften Ton von fünf Menschen, deren Schicksale sich miteinander im Tod verbinden, deren Lebenswege sich schon vorher gekreuzt hatten: Da ist ein Zwillingsbrüderpaar, das die Leidenschaft entzweit, eine übermächtig liebende Mutter, die von ihrer Tochter geschmäht und verlassen wird, eine auserwählte junge Klosterfrau, die nichts anderes vom Leben kennt als Gehorsam, eine berühmte Schauspielerin, die ihre Begabung und die Liebe nicht begreift.
Bis auf diese Schauspielerin und den Vizekönig von Peru, dessen Mätresse sie war, sind die handelnden Personen fiktiv. Der Autor war auch nie in Peru, was ihm den Karl-May-Vorwurf einbrachte, er habe etwa Klimadetails nicht richtig dargestellt. Aber das ist ganz und gar unwichtig, denn klug und genau geht es in dieser Geschichte (dessen Liebesmotiv der Schriftsteller Patrick Roth in einem kleinen Nach-Text variiert und pointiert) um das, was zählt im Leben – und um das, was bleibt.

Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit,
mit einem Nachwort von Patrick Roth
Arche Verlag, Zürich/Hamburg 2014
175 Seiten, 17,50 Euro

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