Roman "Schermanns Augen"

Von der Hackordnung und den Träumen im Gulag

Eine Zelle für vier Häftlinge im Strafblock im Gulag Perm 36, gesehen durch das Beobachtungsloch in der Zellentür.
Ein kleiner Raum für vier Häftlinge im Strafblock im Gulag Perm 36. So könnte die Zelle von Rafael Schermann ausgesehen haben - der Hauptfigur in Steffen Menschings Roman © imago stock&people
Steffen Mensching im Gespräch mit Frank Meyer · 13.08.2018
In seinem vierten Roman erzählt Steffen Mensching die Geschichte von Rafael Schermann − einem Graphologen und Hellseher, der in ein sowjetisches Straflager gerät. "Eine Mischung aus großer Scharlatanerie und großer Begabung" nennt Mensching ihn.
Frank Meyer: Ein Hellseher und Graphologe, Rafael Schermann, der landet in einem sowjetischen Straflager. Eben hat er noch zur Kulturszene in Wien und Berlin gehört, ist mit Leuten wie Else Lasker-Schüler umgegangen, Oskar Kokoschka, Karl Kraus zum Beispiel, jetzt liegt er schwerkrank in einer Lazarettbaracke in einem Lager nördlich des Polarkreises.
Steffen Mensching erzählt Rafael Schermanns Geschichte in seinem großen Roman "Schermanns Augen". Das ist sein vierter Roman. Steffen Mensching hat außerdem Gedichtbände veröffentlicht, andere Texte, und seit zehn Jahren ist er Theaterintendant im thüringischen Rudolstadt. In der DDR war er sehr bekannt durch dadaistische Theater-, Clownsprogramme, "Letztes aus der DaDaeR" hieß eins davon, und jetzt ist er hier bei uns zu Gast. Seien Sie willkommen in der "Lesart", Herr Mensching!
Steffen Mensching: Ja, hallo!
Meyer: Sie haben zwölf Jahre an diesem Roman gearbeitet, "Schermanns Augen". Wenn man so lange an einem Thema sitzt, dann muss einen ja da wirklich was gepackt haben. Was war das denn, was hat Sie an Rafael Schermanns Geschichte gepackt?
Mensching: Zunächst mal der Kontakt über ein Buch. Es gab in den 20er-Jahren ja viele Schriften über Rafael Schermann. Ein gewisser Oskar Fischer hat ein Buch geschrieben, das Experimente mit diesem Graphologen beschreibt und kommentiert. Das hab ich irgendwann mal gefunden aus einer Bibliothek in Amerika. Ich war erstaunt über diese seltsamen Berichte und dachte mir, was ist da nun Wahrheit dran, was ist da Trick, Betrug oder was auch immer. Da bin ich auf die Suche gegangen, und ich kannte jemanden in Amerika, eine Emigrantin aus Wien, Lilly Hall, eine sehr gute Freundin von mir, die war damals schon weit über 90. Als ich ihr erzählte, dass ich über Schermann arbeite, nachdenke und recherchiere, sagte sie, dass sie diesen Mann kennen würde beziehungsweise ihre Mutter hätte sie ihm vorgestellt, Schriften von ihr, als sie ein kleines Kind war, um rauszukriegen, was denn in diesem kleinen Mädchen tickt und was ihre Zukunft sozusagen ausmacht. Durch diese persönliche Bekanntschaft bin ich auch angestachelt worden, an diesem Text weiterzuarbeiten.

Karl Kraus war ein guter Fang für ihn

Meyer: Wenn wir dann mal drauf schauen, was dieser Rafael Schermann gemacht hat –er muss ja eine enorme Ausstrahlung gehabt haben. Wenn ich daran denke, dass sogar ein so super kritischer Geist, wie Karl Kraus das war, dass der sich beraten hat lassen von diesem Graphologen, Hellseher. Wobei hat sich denn Karl Kraus von ihm beraten lassen?
Mensching: Karl Kraus steckte um 1916 in einer sehr schwierigen persönlichen Situation. Er war Kriegsgegner, begann an seinem großen Mammutwerk "Die letzten Tage der Menschheit" zu arbeiten und war verliebt in eine böhmische Gräfin, Sidonie von Nádherný. Das war eine sehr unglückliche, schwierige Liaison, niemand durfte Genaues wissen, er verheimlichte dies, sie war von Adel, er war aus einer jüdischen Familie stammend, ein kritischer Geist in Wien, sehr liberal. Er versuchte sozusagen über Schermann rauszukriegen, ob es eine Chance gäbe, diese Beziehung zu leben, und hat tatsächlich auf Schermann sehr gebaut, und Schermann war auch sehr glücklich, diesen Karl Kraus an Land ziehen zu können, denn das war eine Autorität damals in Wien. Wer den sozusagen auf seiner Seite hatte, der konnte kein Betrüger oder Scharlatan sein. Und das auszuräumen, war eines der wichtigsten Begehrlichkeiten dieses Graphologen. Das ist ihm auch geglückt, er war wirklich in den 20er-Jahren eine Berühmtheit – er war in Amerika, er war in Frankreich, er ist quer durch Europa getourt und galt neben Hanussen, Moecke und einigen anderen Hellsehern, die damals durchaus auch Furore machten in Europa, als einer der wichtigsten.

"Er kannte Gott und die Welt"

Meyer: Sie führen in diese Welt, die Sie gerade kurz angerissen hatten, rund um Karl Kraus und in diese ganze Kulturszene, aber eben auch in einen späteren Teil des Lebens von Rafael Schermann, als er dann in die Lager des Gulag in der Sowjetunion gerät. Wie ist er da denn hingeraten?
Mensching: Nun, dass er ins Gulag geraten ist, das ist Teil der Fiktion dieses Buches. Er lebte ab Mitte der 30er-Jahre wieder in seiner polnischen Heimat, in Krakau, wo er auch geboren ist 1874, da hat er sich zurückgezogen, das hing auch zusammen mit den politischen Umwälzungen in Europa. Er lebte bis '33 in Berlin, ist dann hier geflohen, weil jüdisch und auch durchaus gefährdet. Er kannte gewisse Leute, die nicht mehr en vogue waren. Er kannte zum Beispiel Brecht, er kannte Eisenstein, er kannte wirklich Gott und die Welt, und Gott und die Welt kannte ihn. Er ist dann nach Polen zurück, und 1939, zu Beginn des Krieges, als die Deutschen Polen überfallen, geht er in Richtung Osten nach Lemberg, ins damalige Lwów, später Lwiw, und das ist ja da die Stadt oder der Teil, der dann in den mittleren Septembertagen 1939 von den sowjetischen Truppen eingenommen wird. Das heißt, er gerät unter sowjetische Besatzung und erleidet das Schicksal, das viele in der polnischen Zivilbevölkerung auch erleiden mussten in diesem Teil. Er wird deportiert in den Osten der Sowjetunion in ein Lager, das ist belegt – bis dahin sozusagen sind die historischen Fakten, wenn man sie denn findet, nachweisbar. Und dass er dann in ein Straflager kommt, das ist Fiktion, das ist der Teil des Romans, wo die Erfindung einsetzt.
Der Schriftsteller und Theatermacher Steffen Mensching
Steffen Mensching hat zwölf Jahre an seinem neuen Roman gearbeitet.© Wallstein Verlag / Friederieke Lüdde
Meyer: Ein anderer Teil Ihrer Erfindung ist ein junger deutscher Kommunist, dem Rafael Schermann begegnet in diesem Straflager. Auf den hundert Seiten des Romans hat man den Eindruck, dass eigentlich dieser Otto Haferkorn die Hauptfigur des Romans sei. Wieso haben Sie diese Figur, diesen jüngeren Kommunisten, hinzuerfunden zu der Geschichte von Schermann?
Mensching: Für mich sind das durchaus zwei parallel wichtige Figuren. Haferkorn und Schermann, das ist so ein Duo, das gibt es natürlich in der Literatur nicht selten, so ein Herr-Knecht-Verhältnis, Sancho Panza/Don Quijote, so eine Kopplung ist das auch. Ich habe ihn erfunden, weil für mich war von Anfang an die Frage, wie kann man so einen Stoff erzählen? Wenn man ihn aus der Ich-Perspektive erzählt, von Schermann, ist ganz klar, irgendwann müssen dann die Karten auf den Tisch oder der Mann ist so von sich überzeugt, dass es dann für die Leser wiederum nicht interessant ist, also so ein Heldenepos. Das wollte ich nicht erzählen, ich wollte meine eigenen Zweifel an dieser Figur irgendwie hineinschreiben. Wenn ich es von meiner heutigen Position hätte machen wollen, dann wäre es eine Art Essay geworden, eine kritische Abrechnung ohne viel Geheimnis, man hätte dann auch irgendwie eine Klärung finden müssen. Mit einer solchen zweiten Person, die aus einer ganz anderen Ecke kommt, nämlich aus einer politischen, aus einer ideologisch verklärten Situation, und der sehr jung ist, sehr unerfahren, bot sich mir die Möglichkeit, einerseits eine Bewunderung, die ich teile, für Schermann auszudrücken und andererseits eine Skepsis und ein Hin und Her an Argumenten, was ist wahr, was ist unklar, wo trickst der Mann, wo ist er wirklich genial. Und ich glaube, das ist auch die Essenz, die diese Figur irgendwie mitbringt. Es ist eine Mischung aus großer Scharlatanerie und großer Begabung gewesen.

Berühmte Lager-Texte bewusst nicht gelesen

Meyer: Der Autor Steffen Mensching ist hier bei uns im Studio mit seinem neuen 800-Seiten-Roman "Schermanns Augen". Wenn man den Roman zu lesen beginnt, dann wird man sofort gepackt und in einer sowjetisches Straflager versetzt, mitten hinein in die Hackordnung dieses Lagers, die inoffizielle Hierarchie, in der Kriminelle das Sagen haben, die die politischen Häftlinge zusätzlich quälen über das offizielle Strafsystem hinaus. Herr Mensching, wenn man sich in diese Lagerwelt begibt als Autor, dann ist man ja auch als Schriftsteller quasi umgeben von Lagerliteratur, von Büchern von Alexander Solschenizyn oder Warlam Schalamow, die selbst im Gulag waren. Wie haben Sie sich auseinandergesetzt mit dieser Literatur?
Mensching: Na ja, das ist natürlich, wenn man so einen Text beginnt, die größte und schwierigste Frage, vor der man erst mal steht. Traut man sich das überhaupt zu, ist man in der Lage beziehungsweise ist man in der Möglichkeit, ist es zu gewagt, so etwas anzupacken, ein Thema, ein Stoff, eine Situation, die man nicht nachvollziehen kann eigentlich, weil man sie nicht erfahren hat, und da ist natürlich Literatur ein wichtiger Bezugspunkt. Ich habe aber ganz bewusst bestimmte Texte nicht zur Kenntnis genommen. Schalamow zum Beispiel, von dem ich natürlich weiß, wie wichtig der ist und war, um den wusste ich schon Anfang der 2000er-Jahre, da waren die meisten Texte von ihm noch gar nichts ins Deutsche übertragen. Ich hatte damals eine gute russische Freundin, die sehr belesen ist und mich darauf aufmerksam gemacht hat. Ich hab diese Texte ganz bewusst nicht gelesen von Schalamow.
Solschenizyn ja, den "Archipel Gulag" natürlich, den kenne ich, auch die Belletristik habe ich gemieden von ihm. Der "Archipel Gulag" ist ja doch mehr eine Faktensammlung, ein Großessay, eine Dokumentation. Ich habe mich im Wesentlichen auf diese faktischen Sachen gestützt, Anne Applebaum, ein großes Werk über den Gulag, und Erinnerungsbücher habe ich gelesen, vor allen Dingen von polnischen Emigranten – Isaac Vogelfanger, ein in Amerika und England lebender Arzt. Das heißt, Biografien habe ich im Wesentlichen gelesen und belletristische Äußerungen, als ich anfing, darüber zu schreiben, eigentlich gemieden, um mich nicht zu sehr abzulenken. Das ist immer gefährlich, wenn einem ein Text gefällt, bestimmte Ideen gefallen, ist man irgendwie geneigt, sie nachzuvollziehen, und wenn man etwas findet, das man selber schreiben will, das der eigenen Intention ähnelt, ist man dann geneigt, der eigenen Intention nicht zu folgen, weil man nicht irgendwie …
Meyer: Nichts wiederholen will.
Mensching: … den Eindruck erwecken will, man hätte irgendwie abgeschrieben. Ich habe allerdings in den 2000er-Jahren auch ein Buch herausgegeben von Rudolf Leonhard. "Das Traumbuch des Exils", der in Südfrankreich interniert war, viele Jahre in einem Internierungslager, ab 39. Das heißt, ich kannte mich mit der Psychologie eines Lagerinsassen durch diese doch sehr intensive Beschäftigung mit den "Träumen" von Leonhard, glaube ich, ganz gut aus.

"Hineinstürzen in die Lageratmosphäre"

Meyer: Ein wichtiger Bezugspunkt für Ihr Buch ist ein anderer Roman oder Romanessay von Peter Weiss, "Die Ästhetik des Widerstands". Ich nehme an, dass Sie das Buch schon in der DDR kennengelernt und verschlungen haben wie viele andere damals. Warum ist der Roman denn jetzt zum Bezugspunkt für "Schermanns Augen" geworden?
Mensching: Bevor ich über Schermann nachdachte, wollte ich immer über das sowjetische Exil schreiben. Mich hat sehr viele Jahre eine Figur beschäftigt und begleitet, die auch jetzt in den Roman eingeflossen ist, das ist Maria Osten, eine Journalistin und Schriftstellerin, die Opfer des Stalinismus geworden ist. Sie wird 1942 erschossen in Saratov. Das war die Geliebte beziehungsweise Zweitfrau von Michail Kolzow, einem der bedeutendsten sowjetischen Journalisten, auch Opfer des Stalinismus geworden, erschossen worden. Über diese Maria Osten wollte ich immer schreiben, habe da sehr viel Material gesammelt, bin dann nicht dazu gekommen, auch die Recherche zu Rudolf Leonhard hing mit Osten zusammen.
Das heißt, insgesamt seit 20 Jahren sitze ich an diesem Thema, und klar, Peter Weiss spielt da eine wichtige Rolle – eine wichtige Rolle, weil er auch vom Faktischen kommt, weil er vom Dokument kommt, weil viele Personen in der "Ästhetik des Widerstands" real sind. Viele Personen, die bei mir eine Rolle spielen, gibt es in der "Ästhetik": Kolzow, Münzenberg, die gesamte KPD-Führungsschicht, die tauchen ja irgendwie auch in diesem Buch auf. Der Unterschied ist, glaube ich, der, dass Peter Weiss essayistisch umkreisend sozusagen vom Ideengehalt der kommunistischen Bewegung her schreibt, während der Ansatz dieses Romans, meines Romans, ist, glaube ich, ein anderer. Er ist mehr ein erzählender, er ist das Hineinstürzen in diese Lageratmosphäre, die eben geprägt ist durch, klar, die politische Dimension, die Tscheka des NKWD und die Kriminellenwelt, etwas, was ja, die Leute, glaube ich, noch anders zerreißt als nur die Problematik, wie die Ideologie den Menschen formt und verändert beziehungsweise auch einengt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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