Roman Sandgruber: „Reich sein. Das mondäne Wien um 1910“

Flüchtiges Geld

Cover von Roman Sandgrubers Buch „Reich sein. Das mondäne Wien um 1910“.
© molden Verlag

Roman Sandgruber

Reich sein. Das mondäne Wien um 1910Molden Verlag, Wien 2022

352 Seiten

39,00 Euro

Von Andrea Roedig · 22.09.2022
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in Wien überdurchschnittlich viele Millionäre. Der Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber hat erforscht, wer sie waren und woher ihr Geld kam. Sein Buch „Reich sein“ liest sich wie ein sozialhistorischer Stadtführer.
 „Die meisten Millionäre sind vergessen“, schreibt Roman Sandgruber. Von den 929 Superreichen der Wiener High Society um 1900, die der Sozial- und Wirtschaftshistoriker in seinem Buch auflistet, haben es gerade einmal 150 auf einen Eintrag im "Österreichischen Biographischen Lexikon" gebracht.
Von manchen blieben Grabsteine, Gemälde, Statuen, Wohnpaläste – an die meisten aber erinnerte man sich bald nicht mehr, so wie auch ihr Reichtum oft nach zwei oder drei Generationen wieder verloren war.
Für seine Untersuchung suchte Roman Sandgruber nach jenen Personen, die im Jahr 1910 ein Einkommen von mehr als 100.000 Kronen zu versteuern hatten, das Hundertfache dessen, was ein Facharbeiter damals verdiente. Nirgends in Europa war die Dichte an Millionären so hoch wie im Wien des Fin de Siècle, und der Reichtum zeigte sich in Stadtpalais, Luxusgeschäften, Grandhotels. Die sehr moderate Besteuerung der Einkommen trug zur sozialen Ungleichheit bei, sie schlug bei den Reichen mit gerade einmal fünf Prozent zu Buche.

Antisemitismus in der Oberschicht

Unter den – zu 90 Prozent männlichen – Millionären jener Zeit waren viele Bankiers, wie etwa Albert Rothschild, der reichste Mann Europas, aber auch Handelsunternehmer mit großen Kaufhäusern, Baulöwen, Grandhotelbesitzer und Industrielle. Reich werden konnte man auf jede erdenkliche Weise, mit der Herstellung von Insektenpulver, mit Druckknöpfen, Zündhölzern, Sargfabrikation, mit der Errichtung öffentlicher Bedürfnisanstalten oder durch Lottogewinn.
Höchste Einkommen bedeuteten dabei nicht unbedingt große soziale Anerkennung, denn in der Wiener Gesellschaft galten Adelstitel oder Beamtenstatus mehr als Geld. Nur zehn Prozent der Millionäre stammten aus altem Adel, der oft naserümpfend auf die vor allem jüdische Geldaristokratie herabblickte. Ein verschwiegener und doch deutlicher Antisemitismus durchherrschte die Oberschicht; obwohl Albert Rothschild als Baron bei Hofe zugelassen war, soll Kaiser Franz-Josef ihm nie die Hand gegeben haben.

Boomzeiten und schwere Verluste

„Reich sein“ ist ein sehr wienerisches Buch. Durchsetzt mit Abbildungen und Kurzporträts entfaltet es ein Panorama der damaligen Oberschicht, aus der manche Personen herausstechen, wie die Zigarrenraucherin und Hotelbesitzerin Anna Sacher, der Ausreißer und Self-made Man Karl Wittgenstein oder Emil Jellinek, der seine Villa in Baden und später auch einen Wagen bei Daimler nach seiner Tochter „Mercedes“ benannte.
Dieses Porträt der Oberschicht spielt zu Boomzeiten des frühen Kapitalismus, lässt aber auch heutige Ungleichheit verstehen und die Flüchtigkeit des Reichtums. Viele der einstigen Millionäre verloren ihren Besitz durch Kriegsanleihen, Hyperinflation oder auch später durch Enteignung.
17 der Millionäre von 1910 – Roman Sandgruber listet sie alle auf – starben in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. „Reich sein“ liest sich wie ein sozialhistorischer Stadtführer, vergnüglich und erschreckend zugleich, weil das, was lange her ist, mitunter doch ziemlich nahe rückt.
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