Steinunn Sigurdardóttir: Jojo
Roman
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling
Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 2014
187 Seiten, 19,95 Euro
Ein Blick in seelische Abgründe
Das Normale grenzt ans Wahnhafte: In ihrem neuen Roman entwirft die isländische Autorin Steinunn Sigurdardóttir das Lebensdrama eines erfolgreichen Onkologen - und seines rätselhaften Doppelgängers.
Fast alle ihre Bücher handelten von der Liebe in ihren verschiedensten Ausprägungen, heißt es auf der Homepage von Steinunn Sigurdardóttir. Das stimmt und ist doch nur die halbe, die harmlose Wahrheit. Ein wenig Argwohn sollte schon mitbringen, wer sich den Büchern der in Reykjavik und Berlin lebenden isländischen Schriftstellerin zuwendet.
Mit dem Spielzeug, nach dem ihr neuer Roman "Jojo" benannt ist, verbindet sich eine besonders perfide Geschichte. Martin Montag, ein äußerst erfolgreicher, 34-jähriger Onkologe, befindet sich dank der Liaison mit der schönen und einfühlsamen Petra im siebenten Himmel. Ebenso erfreut ihn die beginnende Freundschaft mit einem etwas älteren Patienten, der denselben Vornamen trägt wie er, denselben Humor besitzt und sich desselben außerordentlichen Liebesglücks erfreut.
Ein Tumor in Jojo-Form
Das Gespräch mit einem neuen Patienten allerdings, mit dem der Roman beginnt, verursacht dem Arzt seltsame Schmerzen. Der Krebskranke mit dem Tumor in Jojo-Form kommt Martin irgendwie bekannt vor, aber sein sonst perfektes Gedächtnis lässt ihn im Stich. Dafür nehmen die Schmerzen so sehr zu, dass der Arzt sein letztes Stündchen kommen sieht.
Nach dieser dramatischen, auf Auflösung drängenden Exposition setzt Sigurdardóttir ihre ganze Erzählkunst in die Verzögerung. Dicht und souverän unaufwändig entfaltet sie Martins Lebensdrama als Kammerspiel aus Erinnerungen sowie wenigen Begegnungen und Gesprächen mit Petra und Martin Martinetti, dem befreundeten Patienten. Kleine Unstimmigkeiten der Handlung, lange nicht aufgeklärte Vorgriffe des Ich-Erzählers Martin, seine starken emotionalen Reaktionen auf manche Belanglosigkeit schaffen eine Atmosphäre der Unsicherheit, die das Idyll der glücklichen Koryphäe nach und nach zersetzt.
Alles Tun rückt in ein symbolisches Licht
Martin besitzt eine starke Abneigung gegen Kinder, eine "Pädophobie", seine geliebte Petra scheint mehr über ihn zu wissen als er und nicht unbedingt Beruhigendes, und wenn einer seiner Patienten stirbt, erleidet der Arzt Qualen, als hätte er einen geliebten Menschen verloren. Seine Eltern hat er auf dem Friedhof durch neue ersetzt, und diese Wahleltern namens "Mamasommer" und "Papaluft" wünschen sich zuweilen, er möge zu ihnen in den Himmel kommen. Alles Tun rückt in ein symbolisches Licht, das Normale grenzt mit einem Mal ans Wahnhafte, und die Übersetzerin Coletta Bürling lässt diese Verrückungen auch im Deutschen selbstverständlich erscheinen.
Eine große Erzählerin seelischer Abgründe
Der Leser gelangt auf diese Weise in den Raum der Projektionen und Verdrängungen, den Martin für Realität hält. Auch Martin Martinetti, der befreundete Krebspatient, wird geschickt als halb realistischer, halb symbolischer Doppelgänger des Arztes gezeichnet. Martinetti lebte lange obdachlos – Montag ist es in seelischer Hinsicht. Beide machten als Kind dieselbe leidvolle Erfahrung, weshalb der eine Martin dem anderen am Ende beistehen kann, als der Tumor in Jojo-Form die verdrängten Erinnerungen des Arztes weckt.
Sogar diese höchst unwahrscheinliche Spiegelung vermag Steinunn Sigurdardóttir glaubhaft zu machen. Sie ist eine große Erzählerin seelischer Abgründe. Nur beweist sich ihre Kunst diesmal in einem sehr überschaubaren Werk, dessen Zentrum bald erahnbar ist und dessen Spiegelkäfig allzu geschlossen.