Roman Birke: "Geburtenkontrolle als Menschenrecht"

Eine Frage von Sein oder Nichtsein

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Roman Birke: "Geburtenkontrolle als Menschenrecht"
Bereits seit den 1940er-Jahren wird global diskutiert, ob Regierungen in die Familienplanung der Bürger eingreifen dürfen. © Wallstein Verlag / Deutschlandradio Kultur
Von Arno Orzessek · 22.06.2020
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Dass die Ressourcen der Erde endlich sich, die Menschheit zugleich aber stark wächst, wird seit Jahrzehnten als Problem gesehen – und politisch entsprechend kontrovers diskutiert. Der Historiker Roman Birke hat sich die Debatten seit 1940 angeschaut.
"Bevölkerungsexplosion" ist kein sachlicher Begriff, aber seine Popularität lässt sich leicht erklären. Seit etwa 1800 wächst die Weltbevölkerung exponentiell. Selbst während des Zweiten Weltkriegs nahm sie um 125 Millionen Menschen zu.
Doch kaum noch jemand glaubt: je mehr, desto besser. Bereits seit den 1940er-Jahren wird global diskutiert, ob Regierungen in die Familienplanung der Bürger eingreifen dürfen und welche Bedeutung dabei die Menschenrechte haben.
Liegen sie ganz auf der Seite des Individuums, dem niemand die Zahl seiner Kinder vorzuschreiben hat? Oder darf der Staat Geburten beschränken, weil das Bevölkerungswachstum selbst die Menschenrechte vieler Individuen gefährdet (Recht auf Leben, Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung)? Ist auch die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln ein Menschenrecht?

Einmischen? Heikel!

Der Historiker Roman Birke entfaltet in seinem Buch "Geburtenkontrolle als Menschenrecht" das ganze Panorama. Er beleuchtet vom Population Council (Bevölkerungsrat) unter Gründer John D. Rockefeller III über die Vereinten Nationen bis zur katholischen Kirche die wortführenden Institutionen; er führt die rechtlichen, politischen, theologischen, humanitären und demografischen Argumente auf und verfolgt deren Wandel; er zitiert aus den Protokollen der wichtigsten Kongresse.
Im Kalten Krieg gab es eine klare Front: Für sozialistische Staaten war Überbevölkerung das Resultat des ungerechten kapitalistischen Systems; genau umgekehrt führte der Westen die Armut vielerorts auf Überbevölkerung zurück. Also einmischen? Heikel!
"Was könnte gefährlicheres Material für anti-amerikanische Propaganda sein als die Idee, dass weiße, reiche Amerikaner das Wachstum von farbigen, asiatischen und afrikanischen Völkern beschränken wollen?", fragte 1956 Dudley Kirk vom Population Council.
Trotzdem unterschrieben auch mehrere asiatische und afrikanische Staaten, als der Bevölkerungsrat in einer Erklärung Familienplanung als Menschenrecht bezeichnete. Dagegen erklärte Papst Paul VI. in der Enzyklika Humanae vitae, Sex habe stets auf Fortpflanzung gerichtet zu sein, und verbot künstliche Verhütung – ein Tiefschlag für Anhänger der Geburtenkontrolle.

Ein absurd komplexes Problem

Birkes Buch ist kein Schmöker. Es verlangt strikte Konzentration, sonst wirkt der Stoff grau. Doch wer sich einlässt, versteht umso besser, warum Geburtenkontrolle ein geradezu absurd komplexes Problem ist – erst recht mit Blick auf die gesamte Menschheit.
Die Frauenbewegung etablierte seit den 70er-Jahren - es gab nun die Pille - Geburtenkontrolle als individuelles Menschenrecht im Zeichen von Selbstbestimmung. Indiens Premierministerin Indira Gandhi rechtfertigte Zwangssterilisationen mit einem Menschenrecht der Nation auf Entwicklung.
Nicht nur UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali mahnte, weiterhin an die Verantwortung fürs Allgemeine zu denken, weil sich der Planet "auf die Katastrophe zubewegt". Feministinnen kritisierten, der Menschenrechtsdiskurs diene der Geburtenkontroll-Bewegung mit ihrem Primat der kollektiven Interessen nur als Feigenblatt.
Konsens? Kaum erkennbar. Birkes Buch endet in den 90er-Jahren ohne griffige Resultate oder gar Lösungen. Und wie auch? Die damalige Problematik ist unsere, und zwar verschärft: Jeden Tag werden etwa 350.000 Menschen geboren.

Roman Birke: Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit 1940
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
319 Seiten, 32,90 Euro

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