Roman

Am gesellschaftlichen Rand

Ein Obdachloser sitzt im Februar 2014 in Berlin Mitte auf dem Gehweg.
Ein Obdachloser sitzt auf einem Gehweg in Berlin Mitte. © picture alliance / dpa / Foto: Jens Kalaene
Von Gerrit Bartels · 24.09.2014
Auf der Short-List für den Deutschen Buchpreis steht "3000 Euro" von Thomas Melle, der mit "Sickster" bekannt wurde. In seinem neuen Buch geht es um einen Obdachlosen und eine Supermarkt-Kassiererin. Er hat Schulden, sie ist nebenher Pornodarstellerin.
Die Abgestürzten, die auf welche Art auch immer aus der Mehrheitsgesellschaft Herausgefallenen, die chronisch psychisch Kranken, die Szene-Kaputten, Hartz-IV-Empfänger und Minijobber, kurzum: die Angehörigen der sozialen Randgruppen, sie alle gehören, um es milde auszudrücken, nicht gerade zum Stammpersonal der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sie sind auch hier Randfiguren. Im noch nicht ganz so großen, aber im Wachsen begriffenen Werk des 1974 geborenen Berliner Schriftstellers Thomas Melle ist das jedoch anders: In seinem ersten, 2011 veröffentlichten und mit dem bezeichnenden Titel "Sickster" versehenen Roman ging es um Menschen, die so gerade noch ihre Fassade als Manager oder PR-Journalist aufrecht erhalten konnten, aber kurz davor waren, aus dem Alltag zu kippen.
Melles neuer, kürzlich auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandeter Roman "3000 Euro" schließt an den lebensprallen Vorgänger an und erzählt eine Geschichte von Menschen, die diesmal deutlich am Rand der Gesellschaft vor sich hin existieren. Oder die schon über den Rand hinaus sind, wie es einer von den beiden einmal formuliert: "Die, die ferner liefen. Jenseitig irgendwie."
3000 Euro Schulden bei Bank
Die eine der beiden Romanfiguren ist Anton, ein abgebrochener Jura-Student und führerscheinloser Ex-Taxifahrer, der im Obdachlosenheim lebt und wegen der titelgebenden 3000 Euro, die er einer Bank aus seinem früheren Leben schuldet, ein Gerichtsverfahren vor sich hat, das er kaum gewinnen kann. Und die andere ist Denise, Supermarktkassiererin und alleinerziehende Mutter einer wahrnehmungsgestörten und in ihrer Entwicklung leicht zurückgebliebenen sechsjährigen Tochter. Ihr karges Gehalt hat sie gerade versucht, bei einem Pornodreh aufzubessern. Vorerst erfolglos, stattdessen wird sie nun von Wahnvorstellungen heimgesucht: An der Kasse fühlt sie sich von fast jedem Mann beobachtet und erkannt - weil ihr Porno im Internet zu sehen ist.
Thomas Melle schaut nun auch: mit sehr kaltem, zuweilen wütendem Blick und sehr präzise auf das Leben dieser beiden, die sich eines Tages an Denises Supermarktkasse kennen und schätzen lernen und damit beginnen, eine Art Beziehung zu führen.
Es ist dieser Blick womöglich von uns allen, nicht nur der von Sozialarbeitern, Ärzten, Bankangestellten und einstigen Freunden: auf die abgerissene, schmuddelige Kleidung, selbst wenn es bei Anton eine Zeit lang noch ein Anzug ist, auf bestimmte Körperhaltungen, auf erloschene Hoffnungen, auf das White-Trash-Gebaren, auf das Außen-vor-sein, das im besseren Fall, nämlich dem von Denise, mitunter erst auf den zweiten oder dritten Blick zu erkennen ist.
Prolet unter den Bürgerlichen
Denise ist noch eine von uns; Doppelgängerinnen von ihr sind beim sogenannten Unterschichtenfernsehen der Privatsender zu sehen, und Denises Notizbuch enthält die Namen von zahlreichen Männern wie Heiner, Fränkie, Robby, Max oder Roland, mit denen sie ihre Einsamkeit zumindest gegen einen One-Night-Stand austauschen könnte: "Nimm dir, was du brauchst, auch wenn nicht klar ist, was du willst." Anton hat es da aktuell viel schwerer, er ist schon viel jenseitiger, allein seiner Ausbildung wegen: Unter den Bürgerlichen ist er der Prolet, unter Proleten, in deren Kneipen, der verhasste Bürger. "Er kann nicht mit den Menschen reden, nicht mit den oberen, nicht mit den unteren."
Manchmal hat man den Eindruck, all das, was Melle zumeist nüchtern und seinen Figuren durchaus Raum für Selbstanalysen gebend erzählt, ist fast ein bisschen zu stimmig, zu stimmig kaputt. Da passt auch manches von ihm hereingereichte Pop-Zitat eine Idee zu perfekt, von "Draußen auf Kaution" (Blumfeld) über "Live is Life" (Opus) bis hin zu Verweisen auf die Rapper Sido und Bushido oder den Maler Norbert Bisky. Aber zum einen ist das hier kein Sachbuch, sondern Literatur. Und zum andern führt in der Wirklichkeit tatsächlich oft das eine zwangsläufig zum anderen, man nennt das gern "Teufelkreis" oder "Abwärtsspirale". Immerhin, Melle ist milde gestimmt, auf ein bisschen Versöhnliches aus. Und im Fall von Denise erfüllt sich am Ende sogar ein Traum.

Thomas Melle: 3000 Euro
Rowohlt, Berlin
204 Seiten, 18,95 Euro

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