Rollstuhlfahren

Die Tücken des Alltags

06:39 Minuten
Eine junge Frau ist zu Gast in einem TV-Studio, sitzt in einem Rollstuhl und spricht in ein Mikrofon.
Die Sportlerin Edina Müller in der ZDF-Sendung „Das Aktuelle Sportstudio“ im März 2020. © imago images / Martin Hoffmann
Von Elmar Krämer · 29.04.2021
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Edina Müller ist erfolgreiche Sportlerin, Comedian Tan Çağlar füllt Unterhaltungssäle. Beide sitzen im Rollstuhl, die modernster Technik entsprechen. Dennoch haben sie auch mit Problemen zu kämpfen – vor allem im Alltag.
"Es gab mal eine Umfrage, die hat mich sehr erschrocken: Da wurde gefragt: Malen sie mal ein Rollstuhlfahrer auf. Das, was am meisten gemacht wurde, das war wirklich so ein ganz alter Rollstuhl, wie man das mal aus dem Krankenhaus kennt, mit einer alten Frau drin, die auch noch eine Decke über die Beine hat. So, das ist ein Rollstuhlfahrer. Und jetzt kommst du mit deiner Karre, irgendwie mit deinen reflektierenden Speichen."
Tan Çağlars Rollstuhl ist mattschwarz, hat goldene Hinterradspeichen und Vorderfelgen und erinnert eher an ein Hightech-Rennrad. In seinen Shows beschäftigt sich der Comedian mit dem Leben als Rollstuhlfahrer, mit den Tücken des Alltags und mit den Perspektiven von gehenden und rollenden Menschen. Er selbst kann seit seinem 20. Lebensjahr aufgrund einer schweren Wirbelsäulenerkrankung nicht mehr gehen und mittlerweile identifiziert er sich mit seinem Rollstuhl.

Rollstühle werden in Deutschland von Ärzten als Heil- und Hilfsmittel verordnet und von den Krankenkassen finanziert. Ist ein Mensch dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen, muss dieser individuell an die Anatomie des Körpers angepasst werden.
"Wir haben 102 Hinterradposition, dann haben sie zehn Sitzbreiten."
Winfried Beigel ist Rollstuhlentwickler beim Medizintechnikunternehmen Otto Bock. Und beschreibt zur Veranschaulichung den "Avantgarde", eine Art Bausatzrollstuhl:
"Sie haben zehn verschiedene Sitztiefen. Sie haben drei verschiedene Rückenhöhen, haben 17 verschiedene Farben. Die Varianz dieses Stuhles, die man aufbauen kann, sind ungefähr 2,4 Millionen verschiedene Möglichkeiten."

Rollstühle mit modernster Technik

Modernen Fahrrädern ähnlich wird auch bei Rollstühlen auf gute Rolleigenschaften und einen perfekten Geradeauslauf geachtet – und es werden leichte Materialien wie Aluminium und Carbon verbaut und das teilweise auch in kassenfinanzierten Rollstühlen. Das Gewicht ihres Rollstuhls war auch für die Paralympics Goldmedaillengewinnerin im Rollstuhlbasketball und Weltmeisterin im Einer-Kajak Edina Müller ausschlaggebend.
"Als ich den mir ausgesucht habe, habe ich schon ein bisschen auf Designelemente geachtet, besonders wichtig war mir, dass er leicht ist, weil ich ihn ins Auto ziehen muss oder möchte, ohne ihn auseinanderzubauen."
Natürlich gibt es auch Rollstühle mit innovativen Faltkonzepten, doch viele Rollstuhlfahrer*innen vor allem die, die auch allein im Auto unterwegs sind, verzichten auf derartige Zusatzfunktionen – aus gutem Grund:
"Weniger Einstellbarkeit heißt weniger bewegliche Teile, heißt weniger Gewicht. Wenn ich weniger Gewicht habe, habe ich weniger Belastung auf der Schulter, wenn ich den Rollstuhl nachher antreibe", sagt Rollstuhlentwickler Winfried Beigel.


Am Wirbelsäulenzentrum der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg untersuchte Professor Michael Akbar, inwieweit Rollstuhlfahrer durch die dauerhafte Belastung ihrer Arme, also durch das Stemmen des eigenen Körpergewichts, das Heben der Arme über Kopf und das Antreiben des Rollstuhls, ein erhöhtes Risiko für Risse in der Rotatorenmanschette haben. Also in den das Schultergelenk umgebenden Weichteilstrukturen aus Muskeln und Sehnen. In der Studie wurden 100 Rollstuhlfahrende und 100 gehendende Probanden verglichen.
"63 Prozent hatten Rotatorenmanschettenrupturen, in der Kontrollgruppe nur 15 Prozent. Auch entzündliche Veränderungen zum Beispiel des Schleimbeutels unterm Schulterdach, Sehnenveränderungen, das Akromioklavikulargelenk, das ist das Schulterdach-Schlüsselbein-Gelenk, war deutlich häufiger betroffen. Weichteilverschleiß, der dann zu dieser Beschwerdehaftigkeit der Schultern geführt hat und das die Schultergelenke trotz der Beschwerden ja täglich benutzt worden sind und eingesetzt worden sind, sind die Patienten teilweise aus dieser Schmerzspirale und Entzündungsspirale und Überbelastungsspirale gar nicht rausgekommen."

Rollstühle werden auf Bedürfnisse angepasst

Grundsätzlich müssen Rollstühle gut an die individuellen Voraussetzungen der Nutzer und Nutzerinnen angepasst werden, sagt auch Michael Akbar, um die Belastungen nicht noch unnötig zu verstärken.

"Da gibt es ganz viele Dinge, die falsch gemacht werden können. Wenn man diese Radaufhängung zu weit hinten setzt, muss der Patient das Schultergelenk ja noch mehr belasten."
Perfekt angepasste Technik und bestmöglich trainierte Körper: Die Autoren der Studie empfehlen gezielte physiotherapeutische Maßnahmen zum gleichmäßigen Muskelaufbau und vor allem der Dehnung und Flexibilitätserhaltung der Sehnen, Bänder und Muskeln der Schulter.

"Um das Schultergelenk so gut es geht zu schützen, um dort das Entstehen von Mikroverletzungen durch diese ganzen Überbelastungen des Schultergelenkes zu verringern und das Entstehen von pathologischen Veränderungen wie Rotatorenmanschettenrupturen nach hinten zu schieben."

Für die Leistungssportlerin Edina Müller, die neben ihrer sportlichen Karriere als Sporttherapeutin arbeitet, gehört ergänzendes Training zum Alltag.

"Ich mache noch viel extra, um die Schulterstabilität zu steigern."

Für die Sportlerin ist klar: Egal, wie perfekt angepasst, leicht und gut rollend der Rollstuhl – zu einer selbstbestimmten Mobilität im Alltag gehören auch die körperlichen Fähigkeiten der Nutzerinnen und Nutzer.

"Man kann einfach gucken, dass man die Schulter entlastet, indem man sich gesamt fit hält und den Oberkörper aufbaut, also nicht nur auf die Schultern sich konzentriert, sondern auf Rücken- auf Rumpfstabilität, um das komplette System Oberkörper zu stärken.

Die Probleme warten im Alltag

Die größten Probleme im Alltag allerdings bereiten meist nicht die fehlende Körperkraft oder die mangelhafte Rollstuhltechnik, sondern die Tatsache, dass die Umwelt in der Regel nicht rollstuhlgerecht und barrierefrei ist. Das wird für Menschen wie Edina Müller und Tan Çağlar, die oft allein unterwegs sind, häufig zur Herausforderung.

"Das ist ja so ein flacher Bürgersteig, das geht noch so, da kann man mal so eben rüberfahren. Das ist schon okay. Blöd ist immer, wenn man zum Beispiel einen Kaffee in der Hand hätte oder so, dann ist es jetzt auch doof, dann musste mal gucken ... und das hier ist schon wieder ein bisschen höher. Jetzt kommt der nächste Bürgersteig, der ist so paar Zentimeter höher… / Und dahinter dann gleich noch Kopfsteinpflaster! / Ja, das ist eigentlich jeden Tag Ninja Warrior Germany hier draußen."
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