Roberto Saviano über sein Buch „Aufschrei“

"Angst ist gesund, aber Feigheit vergiftet"

15:53 Minuten
Der Schriftsteller Roberto Saviano mit Glatze und Vollbart schaut in die Kamera.
"In meinem Buch habe ich nach Menschen gesucht, die dafür gekämpft haben, alles das zu verändern, was nicht in Ordnung ist", sagt Roberto Saviano. © imago images/IPA/Gloria Imbrogno
Roberto Saviano im Gespräch mit Maike Albath · 21.05.2022
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In Zeiten von Fake News und Manipulation durch Populisten ist Zivilcourage gefragt wie nie. Mit dem Buch „Aufschrei“ will der Autor Roberto Saviano Menschen ermutigen, bei Unrecht einzugreifen: Angst gehöre dabei dazu, dürfe aber nicht lähmen.
Der neapolitanische Journalist und Autor Roberto Saviano wurde 2006 auf einen Schlag zu einer nationalen und dann auch internationalen Größe, weil er einen dokumentarischen Essay über die Camorra veröffentlicht hatte.
„Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“ lautete der Titel dieses berühmten Buches, das die martialischen Praktiken der Mafia-Organisation und die Verstrickungen mit der legalen Wirtschaft offenlegte, sich weltweit über zehn Millionen Mal verkaufte und die Bosse in Bedrängnis brachte.

Durch die Polizei geschützt

Obwohl er seither unter Polizeischutz leben muss, hat Saviano weiter recherchiert und geschrieben und etliche Reportagen und Romane veröffentlicht. In seinem neuen Buch "Aufschrei! 30 Anstöße für eine mutigere Welt" erzählt er 30 Geschichten über Zivilcourage.

„In meinem Buch habe ich nach Menschen gesucht, die dafür gekämpft haben, alles das zu verändern, was nicht in Ordnung ist. Ich wollte mit ihren Schicksalen bezeugen, dass es die Möglichkeit gibt, Vertrauen in die Veränderbarkeit der Dinge zu haben.“

Roberto Saviano

Dabei sei Mut nicht gleichzusetzen mit völliger Angstfreiheit, sagt Saviano: "Das Gefühl von Angst zeigt uns, dass irgendetwas schiefläuft. Dass wir uns schützen müssen. Das, was nicht geht, ist Feigheit. Feigheit unterscheidet sich von Angst. Feigheit vergiftet, Feigheit ist ein Risiko, denn sie kompromittiert unsere Entscheidungen. Angst ist gesund". (Das Interview gibt es auch in einer italienischen Version.)
"In meinem Buch habe ich nach Menschen gesucht, die dafür gekämpft haben, alles das zu verändern, was nicht in Ordnung ist. Ich wollte mit ihren Schicksalen bezeugen, dass es die Möglichkeit gibt, Vertrauen in die Veränderbarkeit der Dinge zu haben."
Einer dieser Menschen ist Martin Luther King. Jahrelang hat das FBI versucht, den Ruf des schwarzen Bürgerrechtlers zu zerstören.
„Es gab das sogenannte ‚Selbstmord-Paket‘“, erzählt Saviano. “Sie haben King einen Brief geschickt, in dem steht, dass man alles in der Hand habe, um ihn zu verleumden und zu diffamieren als jemanden, der Unzucht betreibt und Steuern hinterzieht. Und sie bieten ihm an: Wenn du dich umbringst, verzichten wir darauf, all diese Anschuldigungen publik zu machen.“

Tödliche Gerüchte über eine Schauspielerin

Der Schauspielerin Jean Seberg wurde ein Opfer von übler Nachrede, weil sie die Bürgerrechtsbewegung Black Panther unterstützte. Als sie von ihrem Mann Romain Gary ein Baby erwartete, kamen Gerüchte in der Presse auf, das Kind sei nicht von ihrem Mann, sondern von einem Anführer der Black Panther.

Die Algorithmen belohnen ja gerade Angriffe, Attacken, Polemiken. Algorithmen sind so konstruiert, sie sind eben nicht neutral. Das führt dazu, dass sie uns zu schlechteren Menschen machen."

Roberto Saviano

Das Geraune der Presse, die ein schwarzes Baby erwartete, setzte Seberg so sehr unter Druck, dass sie ihr Kind verlor. Um zu beweisen, dass an den Gerüchten nichts dran war, zeigte Seberg den Leichnam ihres toten Kindes den Journalisten.
Über diese Geschichte ist die Schauspielerin nie hinweggekommen, einige Monate später hat sie sich das Leben genommen. „Diese Art von Tratsch ist reiner Faschismus, bemäntelt von vermeintlich journalistischen Informationen“, kritisiert Saviano. Inzwischen verbreiten sich Gerüchte durch soziale Medien ungleich schneller.
"Heute ist es praktisch unmöglich, sich gegen Anschuldigungen zu wehren, weil die Internet-Plattformen ganz bewusst die Verbreitung von Gift forcieren. Die Algorithmen belohnen ja gerade Angriffe, Attacken, Polemiken. Algorithmen sind so konstruiert, sie sind eben nicht neutral. Das führt dazu, dass sie uns zu schlechteren Menschen machen."

Lesern, die alles satthaben, einen Ausweg bieten

Die Menschen, die er in seinem Buch vorstellt, verbinde alle eine Widerstandskraft, die über das Vorstellbare hinausgeht, erklärt der Autor: „Es sind Menschen, die auf das Wort setzen und darauf, dass es einen Unterschied macht, auf wessen Seite man steht. Das ist genau der Punkt, an dem ich diese verschiedenen Geschichten miteinander verknüpfen konnte.“
Er wolle den Lesern, die alles satthaben, einen Ausweg bieten, sagt Saviano: „Ich wollte denjenigen, die entmutigt sind und das Gefühl haben, es nützt alles nichts und die übelsten Leute werden immer die Sieger sein, andere Geschichten bieten.“
Ein anderes Thema, das sich durch das Buch zieht, ist Migration. Saviano nennt sie einen „Prüfstein für die gesamte europäische Rechte“. Hier setzten die Populisten den Hebel an, um Zustimmung zu erhalten: „Da die Rechte auf die Probleme der Arbeitslosigkeit, auf die Lage des Wohlfahrtstaates, auf die Frage der wirtschaftlichen Gestaltung keine Antworten hat, hat sie angefangen, die Migranten zu terrorisieren.“
Dabei entwirft Roberto Saviano ein ziemlich pessimistisches Bild seines Heimatlandes Italien. Die Antwort auf die Frage, ob es nicht doch etwas gebe, was ihm Hoffnung macht, fällt kurz aus. Sie lautet: „Nein.“
(beb)
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