Roberto Ciulli inszeniert "Boat Memory"

Über die Bedeutung des Menschseins

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Ein Szenenbild des Theaterstücks "Boat Memory" von Roberto Ciulli zeigt das Gerippe eines Holzschiffes in der Mitte der Bühne. Daneben stehen links und rechts vereinzelt Menschen
Das Bootsgerippe als Metapher für die Schiffbruch erleidenden Menschen: Roberto Ciulli inszeniert "Boat Memory". © Theater an der Ruhr / Knut Maron
Von Dorothea Marcus · 13.12.2019
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Der mit dem Faust Theaterpreis geehrte Roberto Ciulli hat ein Stück über die Identität Ertrunkener aus der Perspektive einer Gerichtsmedizinerin inszeniert. Er gibt damit den Menschen, deren Leben im Mittelmeer endete, eine Geschichte.
Man hört kaum noch von ihnen, seitdem die europäische Abschottungspolitik effizient und erbarmungslos geworden ist. Abgestumpft erscheint die westliche Welt vor Schicksalen, die sich immer noch tagtäglich auf dem Mittelmeer abspielen. Regisseur Roberto Ciulli spürt in seiner Uraufführung "Boat Memory – Das Zeugnis" einigen der untergegangenen Schicksale als eine Art "literarischer Forensiker" nach.
Inspiration für ihn war tatsächlich auch eine Forensikerin in Mailand, die Leichen von angeschwemmten Boots-Flüchtlingen untersucht und ertrunkenen Menschen so ihre Würde zurückgeben will. Auf der Bühne liegt ein Bootsgerippe auf einer Wasserfläche: ausgeweidet, gestrandet, zerstört. Nach und nach kommen die Darsteller als Wissenschaftler in Sezierschürzen und Langhaarperücken herein – und schweigen minutenlang, voller Ehrfurcht und Schrecken, als handele es sich hier um eine Crime Scene, den Ort eines Verbrechens.

Schuhsohlen, Kinderhöschen, ein Geisterhandy

Still und konzentriert beginnen sie dann ihre Arbeit, klopfen, untersuchen, fischen Gegenstände aus dem Wasser, sezieren akribisch, halten Dinge hoch: Schuhsohlen, ein Kinderhöschen, mal klingelt ein Geisterhandy. Und sprechen dabei Textpassagen des marokkanischen Schriftstellers Youssouf Amine Elalamy, neuer Star der dortigen Szene, aus dem Roman "Gestrandet" von 2001, oder auch eigene Texte wie etwa Simone Thoma einen sehr zynisch-jelinekhaft anmutenden Text über den organen Nemo, der immer gefunden wird, während andere verlorengehen.
So weit könnte es einer jener Opfer-Abende sein, die seit der großen Flüchtlingskrise 2015 massenweise auf deutsche Bühnen kamen, die Mitleid evozieren und den Zuschauer dann wieder ruhig – aber ohne Lösung nach Hause gehen lassen. Regisseur Roberto Ciulli macht etwas anderes daraus: eine Art gemeinschaftliche Trauermediation, ein stilles Requiem, eine Art Grabgesang, dazu leuchten die Seziertische, glitzert das Wasser im Bühnenbild von Elisabeth Strauß.

Über die Hoffnung und ihr brutales Scheitern

Manchmal gibt es da Ausflüge ins zu Pathetische, etwa wenn Simone Thoma raumgreifend das Gleichgewicht zu halten versucht, oder Petra van der Beek die Geschichte eines kleinen ertrunkenen Jungen zu stark betont. Doch je zurückgenommener die Schauspieler agieren, je mehr Ruhe auf der Bühne entsteht, desto mehr ziehen sie den Zuschauer mit hinein in die Bestürzung darüber, dass es kein Entrinnen zu geben scheint vor dem Entsetzen, dass Menschen sterben, einfach weil sie ein besseres Leben wollen.
Es kulminiert, als ein Text verlesen wird, der eingenäht im Hemd eines ertrunkenen 15-Jährigen gefunden wurde, bald in einer Toncollage verfremdet - ein Schulzeugnis. Ein bestürzendes Symbol von Hoffnung und ihrem brutalen Scheitern. Immer wieder geht das Licht aus, immer wieder fordern lange Phasen von Stille den Zuschauer zur eigenen Einkehr auf. Und dann folgt der zweite Teil: Ciulli selbst kommt auf die Bühne und spricht einen Text aus Adolf Hitlers Mein Kampf – das Wort Juden ist durch "Afrikaner" ersetzt. Ciulli trägt dabei eine Kappe mit Hasenohren, anders könnte er den sich in Blut- und Boden-Rassismus immer weiter steigernde Text wohl kaum selber sprechen. Und schreitet schließlich zu Göreckis 3. Sinfonie einmal über die Bühne, jener Altmeister von 85 Jahren, der sein Leben lang gegen rechtes Gedankengut kämpfte.

Inszenierung geht über Flucht und Schuld hinaus

Das ist ein ergreifendes universelles Bild von Vergänglichkeit und Vergeblichkeit – und nichtsdestotrotz des Glaubens an die Kunst als Verteidigerin der Menschlichkeit. Ciullis Inszenierung geht über die Themen Flucht und Schuld hinaus, ist wohl bewusst undokumentarisch und stark poetisch verfremdet. Der Abend schließt mit einem Gedicht des südafrikanischen Dichters Zakes Mda – es ist, passend, ein Nachruf, gesprochen in völliger Dunkelheit.

"Boat Memory" am Theater an der Ruhr
Regie: Roberto Ciulli

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