Streiten gehört dazu

Rivalität unter Geschwistern

06:45 Minuten
Streit und Konkurrenz zwischen Geschwistern ist ganz normal. Trotzdem sollten Eltern bisweilen eingreifen.
Zwei Kinder in Astronauten- und Superhelden-Kostüm. © imago images / Westend61 / David Agüero Munoz
Von Astrid Wulf · 01.09.2022
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Er bleibt sein Leben lang das Nesthäkchen, sie die vernünftige große Schwester: Zementierte Rollen können bei Geschwistern zu viel Streit führen – und das Verhältnis zwischen ihnen ein Leben lang belasten. Wie lassen sie sich überwinden?
Sabine Rückert gehört heute zur Chefetage einer Wochenzeitung. Für ihre Geschwister allerdings wird sie wohl immer „die Kleine“ bleiben. In ihrem Büro, auf dem Sofa, auf dem sie mit ihrer Schwester Johanna den erfolgreichen Podcast „Unter Pfarrerstöchtern“ aufnimmt, erzählt Sabine Rückert, wie es war, mit drei älteren Geschwistern und zwei Halbgeschwistern aufzuwachsen.
Die 61-Jährige hat ihr Smartphone in der Hand und liest aus einem Familienchat vor. „Meine ältere Schwester Barbara, die hat geschrieben: Du warst ein böses und grässliches Kind. Wir haben dich jeden Abend in den Schlaf gesungen, dich Spazieren gefahren und waren unglaublich liebevoll. Du hast gepetzt, genervt und Ansprüche gestellt, weil du wusstest, dass die Mama dich immer verteidigt.“
Die Hamburgerin war eine Nachzüglerin, Sabine Rückerts Eltern hätten ihre Geburt als großes Geschenk empfunden. Also wurde sie nach Strich und Faden verwöhnt. „Das habe ich wahrgenommen und fand ich toll. Ich war natürlich kein erwachsener, reflektierter Mensch. Ich war ein kleines Kind. Ein kleines Kind findet es immer toll, wenn es im Mittelpunkt steht und Vorteile hat. Dass mich meine Geschwister nicht mochten und die Tür zugemacht haben, das habe ich erst später begriffen, dass das einen Grund hatte.“

Konkurrenz und Streit ist normal

Aus Sicht der Entwicklungswissenschaft ist es völlig normal, dass sich Geschwister streiten, dass sie miteinander konkurrieren, auch, dass es mal knallt. Alles beginnt mit einem Schock – dem sogenannten „Entthronungstrauma“. Der Begriff aus der Psychoanalyse beschreibt die Gefühle von Erstgeborenen, die mit Geburt des Geschwisterkindes plötzlich nicht mehr an der ersten Stelle stehen.
Nicola Schmidt ist Mutter von zwei Kindern und sie hat ein Buch über Geschwisterrivalitäten geschrieben. „Die Kinder konkurrieren um wirklich lebenswichtige Ressourcen – Essen, Aufmerksamkeit, Sicherheit. Deshalb streiten die auch um den letzten Keks, als ginge es um Leben und Tod.“
Sechs Streitigkeiten pro Stunde sind normal, sagt die Expertin – also im Schnitt ein Streit alle zehn Minuten. Viele Eltern sind davon genervt und teilweise auch völlig überfordert. Dann sei es wichtig, nicht mit Strenge und Härte reinzugehe. „Jetzt reicht es, jeder auf sein Zimmer, oder, was Eltern oft tun, auf das große Kind losgehen, mit: Du müsstest wissen, dass du besser nicht… und so weiter, sondern, dass ich mich eher als Coach sehe von zwei kleinen Menschen, die eine unterschiedliche Sprache sprechen und einander nicht verstehen. Das heißt: Ich gehe mit Ruhe rein. Stopp, wir lösen das gemeinsam.“

Geschwisterrollen nicht zementieren

Gerade kleinere Kinder zoffen sich häufig. Die Rivalität unter Geschwistern entspannt sich normalerweise, wenn die Kinder ins Grundschulalter kommen. Bis es soweit ist, ist es wichtig, dass Eltern eingreifen, wenn der Streit aus dem Ruder läuft, sagt Nicola Schmidt. „Früher haben die Eltern oft gesagt: Lass die mal, die regeln das unter sich. Damit haben die das Recht des Stärkeren zementiert. Das schwächere Kind gibt irgendwann nach. Es gibt nachweislich weniger Streit, wenn man gar nicht eingreift, aber dann habe ich ein massives Machtgefälle, das immer wieder zu unterschwelliger Aggression führt.“
Manchmal sind es die Eltern, die – bewusst oder unbewusst – die Konkurrenz unter Geschwistern schüren. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Geschwisterbeziehungen bis ins Erwachsenenalter hinein leiden, wenn Eltern Kinder benachteiligen oder bevorzugen.
Dazu werden Kinder immer wieder auf bestimmte Rollen und Positionen innerhalb der Familie festgelegt, sagt Nicola Schmidt – auch das könne lange nachwirken. „Es gibt viele Erwachsene, die sind als Kind auf die Rolle des oder der Vernünftigen festgelegt worden. Die haben gar keine Möglichkeit loszulassen, weil sie denken: Wir sind so. Wir wissen, dass Mädchen, die früh junge Geschwister kriegen, viel früher in Verantwortung gepresst werden als zum Beispiel Jungs, weil man erwartet, dass sie vernünftig ist, hilft, sich zurücknimmt und so weiter, als es bei einem Jungen der Fall ist.“ Das präge sie ein Leben lang.

Bis ins Rentenalter das Nesthäkchen

„Meine Schwester Johanna passt immer noch auf mich auf, die, mit der ich die Pfarrerstöchter mache“, erzählt Sabine Rückert, „und mein Bruder ist immer noch voller Mahnungen, wo ich manchmal denke, ich bin über 60, jetzt muss ich mich immer noch Ermahnen lassen.“ Für ihre Geschwister hat Sabine Rückert wohl für immer die Rolle des Nesthäkchens gepachtet. Aber sie nimmt es mit Humor.
In anderen Familien allerdings führen festgelegte Rollenzuschreibungen, Hierarchien und Konkurrenzdenken zu teils jahrzehntelang schwelenden Konflikten, erklärt Familientherapeut Jochen Rögelein. „Es kann sein, dass der Erstgeborene, der acht Jahre älter ist als der Drittgeborene, völlig andere Erfahrungen mit seinen Eltern macht, auch später eine völlig andere Geschichte von seiner Kindheit erzählen wird, zum Beispiel auch, wenn er länger Einzelkind war. Dann wird der Erstgeborene völlig andere Eltern erlebt haben, auch unerfahrene Eltern. Das heißt, dieses Kind wird andere Lebenserfahrungen machen und sie später auch so erzählen als zum Beispiel der Zweit- oder Drittgeborene.“
Was seiner Erfahrung nach hilft: ein Verständnis dafür, dass die Geschwister womöglich in dieselbe Familie hineingeboren wurden, jeder und jede einzelne die eigene Kindheit aber dennoch völlig unterschiedlich erlebt haben könnte.

Perspektivwechsel und Verständnis

Dieser Perspektivwechsel könne helfen, Ungerechtigkeiten von früher versöhnlicher und entspannter sehen zu können. Denn der Familientherapeut ist sich sicher: Es lohnt sich, die Beziehungen zu den Geschwistern zu pflegen. „Wenn es so ist, dass mich mein Bruder, meine Schwester den Rest meines Lebens begleiten kann, würde es sich doch lohnen, mit dieser Person in eine ganz eigene Beziehung zu gehen, diese Beziehung zu entwickeln, sie immer wieder anzupassen, sich mit der Beziehung auseinanderzusetzen, vielleicht auch mit professioneller Hilfe, wenn man Schwierigkeiten hat. Aber einfach einmal zu verstehen, welches Potenzial in dieser Beziehung liegt, die das Zeug hat, biografisch die längste Beziehung in meinem Leben zu werden.“
Sabine Rückert lebt mit ihrem Mann in einer großen Wohngemeinschaft auf dem Land in der Nähe von Hamburg. Ihre Mitbewohnerinnen und Mitbewohner bezeichnet sie als Wahlgeschwister. Das Verhältnis zu ihren Geschwistern ist für sie trotzdem mit nichts zu vergleichen.

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