Ritter des Rasens

04.10.2009
Dass im eleganten Tennis der 20er- und dann der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch wirklich wichtige Themen zur Sprache kamen, zeigt Marshall Jon Fishers Buch "Ich spiele um mein Leben", in dem er die Biografie des deutschen Tennisstars Gottfried von Cramm schildert.
Tennis war einmal ganz anders. Da gab es noch nicht diese äußert knapp bekleideten Damen und Herren, die - trainiert von früheren Elitesoldaten - mit walzenförmigen Oberschenkeln, mit Schultern wie Gewichthebern, mit kehlig herausgepressten Stöhngeräuschen um gigantische Geldbeträge spielen. Da war das Tennis noch eine Welt der langen Hosen, der distinguierten Frisuren und der gepflegten Gespräche. Da wurde gerätselt, was Don Budge und Gene Mako, die beiden Spieler eines amerikanischen Doppels in Wimbledon, zu bereden hatten, wenn sie Schulter an Schulter die Grundlinie entlang gingen. Kommentatoren und Zuschauer waren sich sicher, es ging um Spielzüge oder Angriffstaktiken oder womöglich stritten sie sich.

"Weit gefehlt", sagte Mako einmal, "Wir reden darüber, was wir nach dem Spiel machen wollen, ob wir gern ein Rennboot besitzen würden, ob Frauen rauchen sollten und so weiter."

Dass im eleganten Tennis der 20er- und dann der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch wirklich wichtige Themen zur Sprache kamen, zeigt Marshall Jon Fishers Buch "Ich spiele um mein Leben", in dem er die Biografie des deutschen Tennisstars Gottfried von Cramm schildert. Der etwas wuchtige Titel bezieht sich auf ein Gespräch, dass Gottfried von Cramm 1937 mit der amerikanischen Tennislegende Bill Tilden führte. Tilden hatte beobachtet, wie erschöpft und abgemagert sein deutscher Freund aussah, und ihm vorgeschlagen, sich für ein halbes Jahr aus dem Tenniszirkus auszuklinken.

" Cramm jedoch blickt ihn nur an - "mit einem sehr seltsamen Ausdruck in den Augen." "Du verstehst das nicht, Bill", sagte er. "Ich spiele um mein Leben." Tilden stutzte. "Ich meine das ernst", sagte Gottfried. "Die Nazis wissen, was ich von ihnen halte. Sie werden mich in Frieden lassen, solange ich die deutsche Nummer eins bin und gewinne." "

Im Zentrum von Marshall Fishers Geschichte steht ein Tennis-Match am 20. Juli 1937. Auf dem Centre-Court in Wimbledon geht es um das Daviscup-Interzonenfinale: der als Favorit gesetzte Amerikaner Don Budge, tritt an gegen den Deutschen Gottfried von Cramm. von Cramm weiß, er muss gewinnen, denn in Berlin lauert die Gestapo. Hier eine Live-Reportage des Spiels gegen Byran Grant.

von Cramm gewinnt 6:3, 6:4, 6:2 - einer der Höhepunkte einer erfolgreichen Karriere. Gottfried von Cramm war 1909 in der Nähe von Hannover als Sohn ausgesprochen begüterter Eltern geboren worden. Sein Vater hatte in Oxford studiert und von dort die Liebe zu England und zur englischen Sportbegeisterung mitgebracht. Er ließ Tennisplätze anlegen und nahezu zeitgleich mit dem allgemein wachsenden Interesse am Tennis nach dem Ersten Weltkrieg wuchs auch die Begeisterung seines Sohnes Gottfried für den Weißen Sport.

Gottfried zog in das Berlin der Zwanziger Jahre, wo man nach der Weltwirtschaftskrise der Überzeugung war, tanzend und trinkend in den Untergang zu ziehen. von Cramm trank nicht, rauchte nicht, aber er feierte in den exklusiven Bars und anrüchigen Etablissements - bis exakt Mitternacht. Dann verschwand er, um am nächsten Morgen frisch und unermüdlich im Tennisclub Rot-Weiß, dem Mekka des deutschen Tennissports, zu trainieren. Er war groß, schlank und geschmeidig, ein kultivierter Mann der vollendeten Etikette. von Cramm galt als der Inbegriff sportlichen Könnens und jener Eleganz und Fairness, die den Sport vom wahren Leben trennt. Seine Gegner schätzen sich glücklich, ihn zum Freund zu haben.

" Don Budge sagte: "Sie können noch so stolz und noch so selbstbewusst sein - und glauben Sie mir, ich war es - , wenn Sie neben Cramm den Court betreten, haben Sie fast immer das Gefühl, in seinem Schatten zu gehen." "

von Cramm war umschwärmt von Frauen - und schwul. Als er dann noch heiratete, war seine Frau nach Nazirechnung eine Vierteljüdin - von Cramm war wirklich das Letzte für die Hitlers, Himmlers und Goebbels. Nach seiner Niederlage gegen Don Budge in Wimbledon 1937 wurde von Cramm umgehend von der Gestapo verhaftet. Er verbrachte fast ein Jahr im Gefängnis, aber es blieb ihm erspart, wie andere Homosexuelle im KZ misshandelt zu werden. Nach dem Krieg war er zu alt für eine Karriere im Tennis, gewann aber noch viele Spiele und - noch wichtiger - konnte erleben, dass sich trotz des allgemeinen Hasses auf die Deutschen sein persönliches Renommee als die "personifizierte Ritterlichkeit" unbeschadet erhalten hatte. 1976 starb er in Ägypten bei einem Verkehrsunfall.

Wofür man Marshall Jon Fisher bewundern muss, ist die Komposition seines mehr als 400 Seiten starken Buches, dessen Handlung um ein einziges Tennisspiel montiert ist, das kaum mehr als eine Stunde gedauert hat. Immer wieder kommt er auf dieses Spiel zurück, und immer wieder taucht er ein in ein anderes notwendiges Thema. Die Tennishelden jener Zeit werden mit ausführlichen Biografien vorgestellt, ja sogar die Sportreporter haben nicht nur Namen, sondern auch Geschichten.

Wir lesen die Beschreibungen vieler Tennisspiele, und sie werden nicht langweilig. Im Gegenteil, Marshall Fishers Buch beruht auf einer ungeheueren Fleißarbeit - seine Quellen sind Bücher, Tondokumente, Hunderte von Zeitungsartikeln und Interviews mit Überlebenden aus der Zeit. Und dann ist man verblüfft, wie dramatisch, farbig und visuell die Kollegen der damaligen Zeit Spiele schildern konnten, die die meisten Menschen nie sehen würden.

Ein Lexikon der Tennisfachausdrücke als Anhang fehlt dem Buch, denn es ist eine hoch spannende Lektüre nicht nur für Tennisfans.

Besprochen von Paul Stänner