Risikoforscher: Gesellschaft muss Einführung neuer Techniken diskutieren

Arnim von Gleich im Gespräch mit Susanne Führer · 02.10.2012
Der Biologe Arnim von Gleich arbeitet als Technikfolgenabschätzer. Eine seiner wichtigsten Aufgaben sei, "Alternativen aufzuzeigen, die nicht diese langfristigen Konsequenzen haben". Wichtig sei aber vor allem der gesellschaftliche Diskurs über mögliche Risiken neuer Techniken.
Susanne Führer: Für das Insektenvernichtungsmittel DDT gab es mal den Nobelpreis, heute ist es wegen seiner Langzeitfolgen in den meisten europäischen Ländern verboten. Ein Beispiel von vielen, dass neue Produkte, neue Technologien auch ganz andere Folgen haben können, als man sich erhoffte oder beabsichtigte. Andererseits gelten die Pocken heute als ausgerottet, und ein Leben ohne Computer können wir uns nicht mehr vorstellen. Die heute diskutierten Technologien heißen Gentechnik, Nanotechnologie, synthetische Biologie – sie versprechen viel, aber wie riskant sind sie, und wie beurteilt man das?

Damit beschäftigt sich Professor Arnim von Gleich, der an der Universität Bremen Technikgestaltung und Technologieentwicklung lehrt, er war Mitglied in verschiedenen Kommissionen des Bundestages und der Bundesregierung und erstellt Gutachten für dessen Büro für Technikfolgenabschätzung – also für das Büro des Bundestages, meine ich. Guten Morgen, Herr von Gleich!

Arnim von Gleich: Guten Morgen, Frau Führer!

Führer: Erzählen Sie uns doch mal, Sie waren ja öfter daran beteiligt: Wie funktioniert so eine Folgenabschätzung? Ich meine, Sie haben es ja immer mit der immer unbekannten Zukunft zu tun.

von Gleich: Ja, das auf jeden Fall, und ich meine, ich sitze hier mitten in den Ingenieurwissenschaften und unterrichte angehende Ingenieure. Und Sie wissen ja auch, dass die Technikfolgenabschätzer immer als Bedenkenträger ein bisschen auch tituliert werden.

Also ich versuche mal, zwei grundsätzliche Problematiken auseinanderzuhalten, wie wir mit Technologien umgehen. Also wenn es um Innovationen geht, die kleinschrittig sind, also wo die Folgen überschaubar sind, dann machen wir das auch heute noch, und meiner Ansicht nach zu Recht, mit Versuch und Irrtum. Wir machen einen Schritt, dann gucken wir, wie es passiert, versuchen nachzusteuern und können meistens nachsteuern. Das ist also sozusagen das Normalverfahren.

Problematisch wird dieses Normalverfahren, wenn wir es mit Technologien zu tun haben, bei denen der Schritt sofort große, weitreichende Konsequenzen hat, also tendenziell global und irreversibel wird. Sie haben ja zwei Sachen angesprochen, beim DDT ist es eben so, das DDT ist persistent, es wird nicht abgebaut in der Umwelt, reichert sich in Nahrungsmittel und in der Nahrungskette an und kommt dann wieder. Also das ist sozusagen einer von diesen großen Schritten.

Und in der Gentechnik ist es ähnlich. Wenn ich einen Organismus entlasse in die Umwelt, der sich dort vermehren kann, dann habe ich auch nicht mehr die Möglichkeit, korrigierend einzugreifen. Also ich verfahre nach so einem Prinzip, das heißt Vorsorge, und das heißt eigentlich, handele so, dass immer, wenn etwas schiefgeht, du noch korrigierend eingreifen kannst. Und dass etwas schiefgeht, davon haben wir ja nun einige Erfahrungen.

Führer: Können Sie mal noch ein Beispiel nennen?

von Gleich: Also ein sehr illustratives Beispiel war Anfang der 1930er-Jahre, als in den USA es darum ging, die Kühlschränke in die Privathaushalte zu bringen, man hat bisher Kühlmittel wie Ammoniak verwendet oder Methylchlorid, beides giftig, beides brennbar, und man hat dann also beauftragt, schaffe ein Kühlmittel, das nicht giftig und nicht brennbar ist, und der Chemiker Midgley ist dann vor der Versammlung der amerikanischen Chemiker in einem Kongress aufgetreten, hat einen tiefen Zug FCKW genommen und hat damit eine Kerzenflamme ausgeblasen – womit eben bewiesen war, FCKWs sind nicht giftig und sie sind nicht brennbar.

Und die spannende Frage ist jetzt eigentlich, was hätte man damals schon wissen können, dass FCKWs sozusagen nach 30 Jahren in die Stratosphäre aufsteigen, dort dann doch zerlegt werden und die Ozonschicht zerstören. Und meine These ist, man hätte damals auch schon wissen können, dass diese Stoffe eben sehr persistent sind, dass sie in der Umwelt nicht abgebaut werden und dass sie deswegen überall hingeraten können, was wir uns gar nicht vorstellen können – in 10.000 Meter Höhe, dass da Bedingungen auftreten können, die wir uns nicht vorstellen können. Das heißt dann, man hätte eigentlich dran denken müssen, nicht einen Stoff in die Umwelt zu entlassen, der so lange – also Halbwertszeit 160 Jahre – der so lange in der Umwelt bleibt.

Führer: Nun haben Sie die Gentechnik genannt, Herr von Gleich, und auch gesagt, das ist irreversibel, aber trotzdem ist ja nun Gentechnik – ich meine, man kann sie ja schwer aufhalten, wahrscheinlich.

von Gleich: Ja, also mir kommt es drauf an, dass man zunächst mal die Einschätzung und die Bewertung trennt sozusagen von den Managementkonsequenzen. Also wir sollten nicht versuchen, die Bewertung schon so zu halten, dass wir immer schon die Konsequenzen im Kopf haben. Die Konsequenzen – das ist eine ganz andere Geschichte, also mir käme es erst mal drauf an zu sagen, das ist eine besondere Qualität, der gentechnische Eingriff und vor allem die Freisetzung, und dann kommt sozusagen die gesellschaftliche Bewertung, die durchaus sagen kann: Erstens, wir haben Möglichkeiten, das einzusperren, also wir machen geschlossene Systeme, oder wir können auch als Gesellschaft sagen, das ist es uns wert, das tut die Gesellschaft übrigens.

Also wenn Sie sehen, dass über 70 Prozent der Bevölkerung Gentechnik bei den Nahrungsmitteln ablehnt, aber 75 Prozent bei den Arzneimitteln zustimmt, dann machen die genau so eine Abwägung, dass sie sagen, bei den Nahrungsmitteln habe ich genug Alternativen, da brauche ich das eigentlich nicht, aber bei den Arzneimitteln kann ich sagen, okay, ich nehme das in Kauf, dass ich diese hohe Eingriffstiefe dann auch tatsächlich anwende. Also wie gesagt, die Einschätzung der Qualität des Eingriffs und die Managementkonsequenz, das sind für mich zwei verschiedene Schritte.

Führer: Der Biologe Arnim von Gleich im Deutschlandradio Kultur. Herr von Gleich, trotzdem, wenn wir noch mal das Beispiel mit dem FCKW nehmen, da hätte man doch nun auch gedacht, ja, da hätten auch alle Leute gesagt, klar, das will ich haben, mein Kühlschrank funktioniert, explodiert nicht mehr, er brennt nicht ab, und die Ozonschicht hätte man sich wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt nicht so vorstellen können, wie wichtig das ist.

von Gleich: Ja, Sie haben vollkommen Recht, man konnte sich die Ozonschicht damals nicht vorstellen, also dieses Wirkungsmodell – steigt so weit auf, da oben ist eine harte UV-Strahlung, die zerlegt dann diese persistenten Stoffe doch, und dann gibt es eine hunderttausendfache Kettenreaktion – das hätte man damals nicht wissen können.

Führer: Genau, und so meine ich jetzt umgekehrt – weil Sie sagen jetzt Gentechnik in der Medizin, da stimmen 75 Prozent der Menschen zu –, Sie können sich ja wahrscheinlich auch nicht vorstellen, was für Folgen das haben könnte. Würde man Sie in 30 Jahren fragen, würden Sie sagen, o Gott, hätten wir das gewusst, hätten wir das nicht gewollt?

von Gleich: Ja, also das ist nicht auszuschließen. Also wir haben da keinen sicheren Weg. Also wenn die Gesellschaft sagt, okay, mir ist diese medizinische Anwendung so wichtig, dass ich diese Form der Technik wähle, dann nimmt sie natürlich ein Risiko auf sich, wo dann möglicherweise die Technikfolgenabschätzer sagen, ist es euch klar, dass ihr da so ein Risiko aufnehmt.

In der Regel würden sie dann sagen, wahrscheinlich ist es uns klar, oder es ist uns nicht klar. Aber da besteht bei den Technikfolgenabschätzern eigentlich immer nur noch der Aufklärungsbedarf zu sagen, Leute, überlegt es euch gut, gibt es nicht doch Alternativen. Das ist ja auch ein ganz wichtiges Arbeitsgebiet von mir, dass ich immer versuche, Alternativen aufzuzeigen, die nicht diese langfristigen Konsequenzen haben.

Führer: Sie waren ja Mitglied in der Nanokommission der Bundesregierung, da ging es um den verantwortungsvollen Umgang mit der Nanotechnologie. Wie haben Sie sich da Ihre Meinung gebildet?

von Gleich: Also für mich war die Erfahrung der Nanokommission eine sehr positive. Also ich finde, seit 1930, den 30er-Jahren, hat die Gesellschaft doch bedeutend gelernt, also wir sind vorsichtig geworden. Was vielleicht auch den Hintergrund hat, dass die Industrie gelernt hat, dass zum Beispiel – da sitzen ja Umweltorganisationen, Verbraucherschutzorganisationen. Die Gesellschaft hat auch gelernt, dass diese Nicht-Regierungsorganisationen doch in der Lage sind, eine ganze Technologielinie zu blockieren. Also die grüne Gentechnik kommt in Deutschland nicht voran, weil die Öffentlichkeit das nicht will.

Das heißt also, man sitzt schon zusammen und weiß, jeder der hier sitzt, hat natürlich enorme Einflussmöglichkeiten, und wir kommen eigentlich gemeinsam nur voran, wenn wir uns verständigen. Das war eine wichtige Voraussetzung für das, was ich als die Erfolge der Nanokommission bezeichne.

Eine andere wichtige Voraussetzung war, dass das eigentlich noch relativ offen reingegangen worden ist. Man hatte keine vorgefertigten Meinungen, keine vorgefertigten Beurteilungen. Jedem war nicht ganz klar, wie habe ich diese Technologielinie einzuschätzen, dann haben wir uns ja auch noch eingegrenzt, nur auf Nanomaterialien, auf die erste Generation.

Aber ich bin eigentlich schon auch – wir haben dann einen Leitfaden gemacht zum verantwortlichen Umgang von Nanomaterialien in den Unternehmen, wir haben Vorsorgekriterien erarbeitet im Konsens, und wir haben ein "Leitbild grüne Nanotechnologie" erarbeitet im Konsens, haben allerdings dann auch wieder die Enttäuschung erleben müssen, dass, kaum hatten wir unsere Ergebnisse präsentiert, hat die Bundesregierung ihre Nanotechnologieprogramme präsentiert, und zwar ohne Bezug auf unsere Arbeit. Das war dann der Wermutstropfen in der ganzen Geschichte.

Führer: Aber insgesamt, es geht ja dann doch immer auch wieder um ganz schön viel Geld. Also die Bundesregierung fördert die Nanotechnologie mit 400 Millionen Euro, die Industrie dürfte davon profitieren. Wie versucht denn die, Einfluss zu nehmen auf diese Kommissionen, oder anders gefragt: Wie wichtig sind überhaupt diese Kommissionen für die Entwicklung einer Technologie?

von Gleich: Ja, also wie gesagt, ich habe den Eindruck, dass die konstruktive Mitarbeit schon auch vor dem Hintergrund geschehen ist, dass man weiß, dass viele, die hier sitzen, auch eben Macht haben, diese Entwicklungen sehr stark zu beeinflussen, zu skandalisieren, zu blockieren. Das heißt also, es gibt einen Verständigungsversuch und es gibt einen tiefen Verständigungswillen, der ist natürlich von der Industrieseite auch dadurch getrieben, dass man sagt, wir wollen das, was in der grünen Gentechnik, also in der Gentechnik bei den Nahrungsmitteln passiert ist, nicht noch mal erleben, wir wollen also die Leute mitnehmen, wir wollen einen Konsens erreichen. Natürlich ist das auch ein vernünftiges Verhalten, wenn ich auf den Markt will, wenn ich Produkte verkaufen will.

Führer: Gäbe es denn die Möglichkeit, überhaupt eine Technologie, die von der Industrie gewollt wird, aufzuhalten?

von Gleich: Ich denke, das ist in dieser, in der grünen Gentechnik ist es eigentlich passiert. Also ich bin schon ziemlich lange im Geschäft. Wenn ich mir angucke, was da Anfang der 80er-Jahre von den großen Chemieunternehmen propagiert worden ist, was wir demnächst in der Nahrungsmittelkette haben werden und dass es völlig unaufhaltsam ist, und dass es ohnehin kommt, und dass sozusagen die Bedenkenträger alle eigentlich nur daneben liegen, und wir heute die Wirklichkeit sehen, dass es kaum ein Produkt auf dem Markt gibt, das, denke ich, ist ein Beispiel dafür, dass die Öffentlichkeit, der Verbraucher, die zivilgesellschaftlichen Organisationen, durchaus in der Lage sind, eine ganze Technologielinie zu blockieren.

Führer: Das sagt Professor Arnim von Gleich, er lehrt an der Universität Bremen Technikgestaltung und Technologieentwicklung. Danke fürs Gespräch!

von Gleich: Danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

"Links zum Thema bei dradio.de:"
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Im Neuland der Zwergteilchen
Das Institut für Wissenschaft und Ethik der Uni Bonn über Chancen und Risiken der Nanotechnologie