Virginia Woolf: "Vom Kranksein"

Wenn der Ischias die Eifersucht besiegt

Buchcover Virginia Woolf: "Vom Kranksein"
© Jung und Jung Verlag

Virginia Woolf

Übersetzt von Antje Rávik Strubel

Vom KrankseinJung und Jung, Salzburg 2025

87 Seiten

11,00 Euro

Von Meike Feßmann |
Beim Kranksein kann jeder mitreden. Doch natürlich nicht mit dem Esprit einer Virginia Woolf. Ihr schmaler Essay über das Kranksein, ergänzt um einige Tagebuchnotizen, ist spöttisch, witzig, feinsinnig – literaturaffine Kranke nehmen ihn als Medizin.
Für die einen genügt ein Schnupfen, bei anderen muss es schon eine Grippe sein, damit sie in jenen Zustand geraten, den Antje Rávik Strubel treffend als "Kranksein" übersetzt. Mit der Möglichkeit, ein eigenes Substantiv daraus zu formen, hat das Deutsche dem Englischen endlich einmal etwas voraus. Denn "Kranksein" ist mehr als nur "krank sein". Es beschreibt Krankheit als einen – wenn man Glück hat – vorübergehenden Seinszustand, der die Wahrnehmung der Welt verändert.
"On Being Ill" heißt Virginia Woolfs inspirierender Essay, 1926 zum ersten Mal in T.S. Eliots Zeitschrift "The Criterion" erschienen, dann 1930 als eigenständige Publikation im Verlag "The Hogarth Press", den Virginia Woolf und ihr Mann Leonard 1917 gegründet und gemeinsam geführt hatten.

Eine neue Hierarchie der Leidenschaften

"On Being Ill" ist von umwerfender Originalität, was man im Wortsinn verstehen darf. Denn Virginia Woolf beschreibt die Welt aus der Perspektive einer im Bett liegenden Kranken. So lässt sich das Farbspiel des Himmels in Ruhe betrachten. Die Betriebsamkeit der modernen Welt spielt in der "Einsamkeit des Schlafzimmers" keine Rolle, zumal der Körper seine eigenen Kämpfe führt.
Sie selbst war häufig krank, neigte zu Grippe, Migräne, Nervenzusammenbrüchen und Depressionen. Sie kennt also das "ganze Krankheitsgruselkabinett", wie sie es in ihrem Tagebuch nennt. Dabei beklagt sie die "Armut der Sprache", die einem Kranken zur Verfügung steht. Überhaupt komme Kranksein in der Literatur viel zu selten vor. Es gelte eine neue Hierarchie der Leidenschaften einzurichten. Die Liebe etwa müsse zugunsten von 40 Grad Fieber entthront werden, die Eifersucht den "Qualen des Ischias" weichen.
Man sieht, hier leidet nicht irgendwer, sondern die bedeutendste britische Schriftstellerin der klassischen Moderne. Ihr Spott, ihr Witz, ihr Feinsinn beflügeln, selbst wenn es um ein niederdrückendes Thema geht.

Die Ambivalenz des Krankseins

Die Ambivalenz des Krankseins wurde selten so suggestiv beschrieben wie in diesem gleichermaßen pointierten wie deliriös abschweifenden Essay. Denn Kranksein ist oft beides: schrecklich und entlastend. Endlich darf man ohne schlechtes Gewissen die Pflichten sausen lassen, endlich ist man für nichts verantwortlich. Zumindest wenn ein so fürsorglicher Gatte wie Leonard Woolf sich kümmert.
Alles dreht sich bei Virginia Woolf, auch im Kranksein, ums Schreiben. Von der Quälerei des Romanschreibens für kurze Zeit entlastet, fehlt gleichzeitig das Tagebuchschreiben. So schrumpft die Existenz erst recht zusammen. Immerhin kann sie lesen. Shakespeare beispielsweise oder Dichter wie John Donne, Mallarmé, Rimbaud. Dem gewöhnlichen Kranken dürfte bei solchen Lektüren der Kopf schwirren.
Virginia Woolfs Essay aber ist die reinste Medizin, zumindest für literaturaffine Kranke. Sein stilistischer Schwung wirkt aufmunternd. Anders als Susan Sontag in ihrem berühmten Essay "Krankheit als Metapher", in dem der gesellschaftliche Umgang mit Krebs im Zentrum steht, verfolgt Virginia Woolf kein bestimmtes Ziel.
Spöttische Gesellschaftsskizzen fließen ihr wie nebenbei aus der Feder. Etwa die, dass Mitgefühl hauptsächlich von "Abgehängten und Versagern" gespendet werde, insbesondere von Frauen. Leonard Woolfs "göttliche Güte" steht offenbar jenseits von Frau und Mann.
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