„Es ist ungewiss, von welcher Rakete ich (…) getroffen werde, also kann dieses Dokument auf alle Fälle bei dir bleiben.“
Victoria Amelina: "Blick auf Frauen den Krieg im Blick"
© Edition.fotoTAPETA Berlin
Eindringliches Zeugnis des Kriegs in der Ukraine
07:44 Minuten

Victoria Amelina
Übersetzt von Steffen Beilich und Andreas Rostek
Blick auf Frauen den Krieg im BlickEdition.fotoTAPETA, Berlin 2025304 Seiten
22,00 Euro
Die ukrainische Autorin Victoria Amelina dokumentierte russische Kriegsverbrechen und engagierte sich für eine freie Ukraine. 2023 starb sie bei einem Bombenangriff. Ihr unvollendetes Buch dokumentiert russische Menschenrechtsverletzungen - aus der Perspektive der Frauen.
„Seit dem 24. Februar 2022 habe ich mich von einer Schriftstellerin zur Rechercheurin von Kriegsverbrechen gewandelt und dann gelernt, beides zu sein, damit ich Ihnen, der Welt, die Geschichte von der Suche der ukrainischen Zivilgesellschaft nach Gerechtigkeit erzählen kann.“
Schreibt Victoria Amelina in ihrem Nachwort, das sie bereits vor Fertigstellung ihres geplanten Buches verfasste. Kurz vor ihrem Tod hatte sie beschlossen, die Ukraine für längere Zeit zu verlassen, sie hatte einen Forschungsaufenthalt an der Columbia University in Paris angeboten bekommen. Dort wollte sie ihr Buch fertigschreiben. Doch dazu sollte es nicht kommen. Am 27. Juni 2023 wurde sie in einer Pizzeria in Kramatorsk bei einem russischen Raketenangriff so schwer verletzt, dass sie am 1. Juli starb. Zuvor hatte sie noch eine Datei an eine Freundin gemailt:
In dieser Datei befanden sich unbearbeitete Notizen, eine Sammlung von Texten, der Großteil in Rohform: Portraits etwa von Journalistinnen, Anwältinnen, Menschenrechtsaktivistinnen, Kulturschaffenden, die seit Kriegsbeginn ihr Leben dafür riskieren, eine vielfältige Gesellschaft in der Ukraine zu erhalten. Aber auch Berichte von Reisen waren darunter, die ab März 2022 entstanden, immer dann, wenn Amelina für die Menschenrechtsorganisation Truth Hounds an Orte reiste, wo die russische Armee Kriegsverbrechen verübt hatte und sie mit Betroffenen und Augenzeugen sprach.
Den Opfern des russischen Angriffskriegs Gehör verschaffen
Enge Freundinnen und Kollegen entschieden sich nach ihrem Tod, diese Fragmente herauszugeben – und versuchten, wie sie im Nachwort schreiben, in das Originalmanuskript so wenig wie möglich einzugreifen. Sie wollten Amelinas Anliegen unterstützen, den Opfern Gehör zu verschaffen. Ein Anliegen, dass sie mit vielen ukrainische Autorinnen und Autoren teilte, wie sie noch im Frühling 2023 auf einem kolumbianischen Literaturfestival erzählte:
„Mein Schriftstellerkollege Wolodymyr Wakulenko zum Beispiel wurde während der russischen Besatzung der Region Isjum getötet. Und zwar weil er sich für eine unabhängige Ukraine eingesetzt hat. Das klingt verrückt, weil…natürlich hatte er eine pro-ukrainische Haltung, er war ja ein ukrainischer Schriftsteller. Uns war allen klar, dass die russischen Soldaten bei der Invasion auch Leichensäcke dabeihatten. Wir sind sicher, dass die auch für uns bestimmt sind, für Schriftsteller, Bürgermeister, für all die Menschen, die in den besetzten Gebieten gefoltert und ermordet werden.“
Der Kinderbuchautor Wolodymyr Wakulenko zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufzeichnungen der Autorin. Er hatte seit der russischen Invasion Tagebuch geführt und konnte es noch im Garten vergraben, bevor er im März 2022 verschleppt, gefoltert, schließlich getötet wurde, seine Leiche wurde im Sommer darauf in einem Massengrab entdeckt. Victoria Amelina beschreibt, wie sie das Tagebuch nach der Besatzung ausgräbt und dem Charkiwer Literaturmuseum übergibt. Amelina zitiert die letzten Sätze, die Wakulenko schrieb:
„In den Tagen der Besatzung habe ich mich ein bisschen gehen lassen, dann irgendwann – weil ich halb verhungert war – ganz. (…) Heute am Tag der Poesie wurde ich von einer Gruppe Kraniche begrüßt, (…) und durch ihre ‚Kranu‘-Rufe hindurch konnte man es fast schon hören: ‚Die Ukraine wird sich erholen! Ich glaube an den Sieg!‘“
Leid und Widerstand in der ukrainischen Geschichte
Amelina beschreibt auf erschütternde Weise die Auswirkungen der Besatzung. Außerdem sucht sie nach Möglichkeiten, wie Kriegsverbrechen durch das Völkerrecht geahndet werden können.
„Was ist Gerechtigkeit? Wem sind wir schließlich bereit zu vergeben? Wie können wir derweil mit der Tatsache umgehen, dass die Täter schlimmster Verbrechen oft ungestraft davonkommen? Wie können wir das ändern? Und welche Waffen wählen wir (…)? Keine Entscheidung ist für die, die Gerechtigkeit wollen, einfach, und für die meisten von uns ist der Ausgang unseres Kampfes noch ungewiss.“
In ihren Texten zieht Amelina immer wieder auch Parallelen zwischen Vernichtung und Widerstand ukrainischer Intellektueller heute und denen in der jüngeren Geschichte. Schon in den 1920er und 30er-Jahren hatten sich im Land Intellektuelle gegen die sowjetische Unterdrückung und Russifizierung der ukrainischen Kultur gestellt. Sie werden heute unter dem Begriff der „erschossenen Wiedergeburt“ eingeordnet.
Kriegsverbrechen unter russischer Besatzung
In den 1960er und 1970er-Jahren versuchte dasselbe dann noch einmal die sogenannte „Sechziger“-Bewegung, allen voran die Malerin und Dissidentin Alla Horska, die damals schon Menschenrechtsverbrechen des kommunistischen Regimes dokumentierte und unter mysteriösen Umständen starb. Die Künstlerin ist ein wichtiger Bezugspunkt für Amelina:
„Unter dem Einfluss der humanistischen Kultur des Westens und der erschossenen Wiedergeburt hatten die Sechziger bemerkenswerte Kunst geschaffen und sie hatten ein ebenso bemerkenswertes, aber hartes Leben. Man könnte sie mit den Beatniks oder den Hippies im Westen vergleichen, aber sie hatten es mit einem totalitären und anti-ukrainischen Sowjetstaat zu tun. Jetzt, im Jahr 2022, erscheint uns diese Seite der Sechziger-Bewegung viel verständlicher, näher und wichtiger.“
„Blick auf Frauen den Krieg im Blick“ von Victoria Amelina ist keine einfache Lektüre, auch wegen des notwendig fragmentarischen Charakters. Und dennoch ist es ein immens wichtiges Zeugnis der alltäglichen Herausforderungen des Krieges in der Ukraine aus der Perspektive der Frauen. Und es ist eine Aufforderung an die Welt und jeden einzelnen, die systematischen Menschenrechtsverletzungen unter russischer Besatzung nicht zu ignorieren.