Richard Overy: "Hiroshima"
© Rowohlt Verlag
Ende eines Mythos

Richard Overy
Henning Thies
Hiroshima. Wie die Atombombe möglich wurdeRowohlt Verlag, Berlin 2025239 Seiten
24,00 Euro
Die USA warfen im August 1945 Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Dass Japan so zur Kapitulation gezwungen wurde, erklärt der Historiker Richard Overy zum Mythos. Eine Eskalation der Kriegsmittel sei vorausgegangen - mit vielen zivilen Opfern.
Haben die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki Japan zur Kapitulation gezwungen und den Zweiten Weltkrieg beendet? Laut dem britischen Historiker Richard Overy kann davon keine Rede sein. Sein neues Buch „Hiroshima“ kommt anhand einer Fülle von Quellen, die auch der japanischen Sicht auf die Ereignisse viel Platz einräumen, zu einer anderen Bewertung dieses Mythos.
Der Angriff in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 forderte die höchste Zahl ziviler Todesopfer aller Kriege des 20. Jahrhunderts. Binnen einer Nacht starben an die 100.000 Menschen in einer Feuersbrunst. Die Rede ist nicht etwa von Hiroshima oder Nagasaki. Sondern von Tokio. Fünf Monate vor dem Abwurf der ersten Atombomben legte eine amerikanische Bomberstaffel die halbe Stadt mit Brandbomben in Schutt und Asche.
Flächenbombardements auf japanische Städte
Nachdem die US-Luftstreitkräfte monatelang vergeblich versucht hatten, mit Präzisionsschlägen militärische Ziele zu zerstören, wechselte man die Strategie und ging über zu Flächenbombardements. Unterschiedslos setzten sie über Wochen Industrie- und Wohnviertel vieler japanischer Städte in Brand, die überwiegend aus Holz gebaut waren. Ein barbarisches Vorgehen, das zu Beginn des Krieges noch geächtet gewesen war. Und das nach Richard Overy dem Einsatz der Atombomben den Weg bereitet hat.
Wie konnte es dazu kommen, dass diese Strategie der wahllosen, großräumigen Zerstörung plötzlich salonfähig wurde? Dieser Frage spürt Richard Overy in seinem nicht allzu dicken, aber inhaltlich dichten Buch umfassend nach. Er zeigt: Der Ehrgeiz der US-Luftwaffe, Rassismus gegen Japaner und eine verharmlosende Sprache spielten dabei eine wesentliche Rolle und leisteten der Akzeptanz ziviler Massentötungen schleichend Vorschub.
Einseitiges Narrativ wird hinterfragt
Auch von japanischer Seite wurden die Atombombenabwürfe nicht als kriegsentscheidend wahrgenommen. Man glaubte zunächst nicht einmal, dass es sich wirklich um Atombomben gehandelt hatte. Außerdem suchte Japan bereits seit Ende 1944 nach einem Weg, den Krieg gesichtswahrend zu beenden, solange dabei nur das Kaiserhaus und die damit verbundene Tradition intakt blieb.
Richard Overlys Buch beantwortet die Frage, ob der Einsatz der Atombomben nötig war, um den Krieg zu beenden, eher beiläufig (das war er nicht). Stattdessen wirft der Autor ein facettenreiches Licht auf die Umstände, die dem Einsatz der ersten Atombomben vorausgingen.
Die Atombombe habe Millionen amerikanischer Leben gerettet oder gar den Krieg beendet, heißt es oft bis heute noch. Das Verdienst des britischen Historikers ist es, dieses einseitige Narrativ noch einmal kritisch zu hinterfragen. Sein Buch mahnt uns daran, wachsam zu sein vor jeglichen Beweggründen, die einen rücksichtslosen Krieg rechtfertigen sollen.