Morgan Taltys Blick auf das Penobscot-Reservat nahe der Grenze zu Kanada hat das Zeug zur sozialen Dystopie. Auf zwei Zeitebenen erzählt sein Protagonist David von seinem Leben als Jugendlicher und als junger Mann. David zieht – so wie der Autor Morgan Talty – als Kind gemeinsam mit seiner Mutter ins Reservat, ohne seinen spielsüchtigen Vater und seine ältere Schwester.
Der Umzug steht unter keinem guten Stern. Unter dem Stelzenhaus, das David mit seiner Mutter bezieht, findet er ein Schraubglas, in dem sich Haare, Zähne und Mais befinden. Offenbar will jemand den Neuankömmlingen im Insel-Reservat auf dem Penobscot-River mittels eines alten Fluchs der Goog’ook-Geister indigener Spiritualität Schaden zufügen.
Ich gab mir zwar Mühe, keine Angst zu haben, aber ich hatte doch welche, und als ich Mom davon erzählte, sagte die, die ganze Insel sei verhext, dass unser Volk sie über Jahre, Jahre und Jahre als Friedhof benutzt habe, dass sie noch spätabends Goog’ooks an die Wände klopfen hörte. Sie meinte, ich solle mich nicht fürchten.
Vom „Halbtagsmedizinmann zum Ganztagstrinker"
Auch als der Medizinmann Frick das Haus mit Kräutern ausräuchert und an der Seite der Mutter die Rolle als Mann im Haus einnimmt, schwelt die bedrohliche Atmosphäre weiterhin über der Szenerie – vor allem als Frick vom „Halbtagsmedizinmann zum Ganztagstrinker“ wird, wie David lakonisch bemerkt.
Im Reservats-Alltag sind Drogen- und Tablettensucht, Alkoholismus und psychische Erkrankungen allgegenwärtig. Auch Davids Mutter kämpft mit Abhängigkeiten und depressiven Schüben, sie hat wie die meisten Bewohner kein geregeltes Berufsleben. Bereits im Alter von 14 Jahren dreht sich Davids Leben um Zigaretten und Bier, um Unterhaltsstreitigkeiten mit dem Vater, um seine demente Großmutter und seine psychisch erkrankte Schwester.
Unter diesen Bedingungen Orientierung und Perspektiven für das eigene Leben zu entwickeln, scheint für den jugendlichen Ich-Erzähler kaum möglich. Auch die kulturelle Verwurzelung im Penobscot-Stamm, dessen Anhänger sich selbst als Skeejins bezeichnen, ist für David und seine Freunde Tyson und „JP“ nur einen Witz wert.
‚Schaut euch das an, Skeejins.‘ JP deutete auf sein Sandwich. ‚Das hier ist ein echtes indianisches Sandwich. Da hätten wir gutes dickes Weißbrot, eine dünne Schicht Mayo, einen Klecks Ketchup, ein bisschen geriebenen Cheddar und drei Scheiben Fleischwurst.‘ Er biss ab. ‚Und warum wird es dadurch indianisch?‘, sagte ich. JP sah von mir zu seinem Sandwich. ‚Weil ich es esse, darum. Stell keine Idiotenfragen, David.‘ Tyson und ich lachten.
David erzählt stets in nüchternem, zuweilen sprödem Ton, so als schaue er sich selbst als Außenstehender zu. Die Unbekümmertheit über seinen chronischen Geldmangel und seine suchtkranke Familie oder später über den Verlust von Job, Freundin und gemeinsamer Wohnung wirkt wie eine Schutzreaktion auf seine Lebenswirklichkeit. Als David und sein Freund Tyson bei einem Ausflug in die Stadt außerhalb des Reservats als „verdammte Rothäute“ beschimpft werden, setzen sich die Jugendlichen mit Steinwürfen zur Wehr.
Der Zwischenfall wird zum Fanal eines Lebens am Rande einer Gesellschaft, in der Weiße und Indigene sich mit Skepsis oder offener Ablehnung begegnen.
Lachen als eine Eruption des Lebenswillens
David erlebt die Wirklichkeit als eine Abfolge von Szenen und Begebenheiten, die es zu bewältigen gilt. Für ihn gibt es immer nur das Jetzt. Trotz aller Schwere, die auf seinem Leben im Reservat lastet, scheint manchmal dennoch ein Hoffnungsschimmer auf. Etwa, wenn seine demente Großmutter ihn gütig lächelnd als „den, der nichts aus sich macht“ bezeichnet. Im Gespräch mit einer Pflegerin verspürt David seine tiefe Zuneigung.
Sie sagte bloß, dass meine Großmutter heute schon viel gelacht habe, und als ich das hörte, empfand ich etwas, was ich schon lange nicht mehr so empfunden hatte. Es war vielleicht nicht Glück, aber was, das dem sehr nahekam.
Das Lachen wirkt bei Morgan Talty wie eine Eruption des Lebenswillens in einem Alltag, in dem doch sehr wenig Platz bleibt für Hoffnung. Erst als junger Mann ohne Aufgabe, ohne Halt und ohne Ziel jenseits der Selbstbetäubung, entwickelt David langsam ein Bewusstsein dafür, dass im Leben auch zählt, woher man kommt und wohin man gehen will. Zuweilen scheint in diesem Entwicklungsprozess sogar ein geradezu versöhnlicher Blick auf das omnipräsente Elend durch, der Wille, es mit den Lebensumständen indigener Amerikaner aufzunehmen, mit Diskriminierung, Identitätsverlust und sozialpsychologischer Misere.
Kein Selbstmitleid, zuweilen aber feine Ironie
Als Davids Mutter zum zwölften Mal in drei Monaten in eine Notfallklinik eingewiesen wird, schaut ihr Sohn erstmals genauer hin.
In den weißen Klamotten sieht sie indigener aus, indianischer (das Wort indianisch hasst sie). Aber nichts lässt sie noch jung wirken. Sie ist indigen, und sie hat ein Trauma. Ich vielleicht auch – ich bin nämlich derjenige, der alles hautnah mitbekommen hat – , aber sie denkt, sie sei schlimmer betroffen. Das sagt sie zwar nicht so, aber sie denkt es. Kann sein, dass sie recht hat. Vielleicht sind ältere Indigene einfach stärker traumatisiert als jüngere.
Erst im titelgebenden Kapitel „Sein Name ist Donner“ ganz am Ende des Buches wird deutlich, inwiefern die Traumatisierung dieser Familie nicht allein mit ihrer ethnischen Herkunft zusammenhängt. In Morgan Taltys Roman, der im amerikanischen Original als Sammlung von Short Storys erschien, verdichten sich die achronologisch erzählten Episoden erst Stück für Stück zu einer kohärenten Geschichte. Sie erzählt ohne Urteil und ohne Selbstmitleid, zuweilen aber mit feiner Ironie von den emotionalen und sozialen Abgründen im Leben der native americans, von den Folgen der Auslöschung von Kulturen und Traditionen, vom Wechselspiel zwischen Diskriminierung und Selbstaufgabe.
Morgan Talty selbst beweist mit seiner mehrfach preisgekrönten Prosa, dass zuweilen auch die Literatur einen Ausweg aus diesem Kreislauf bieten kann.