So hat die Geschichte begonnen: Ich entdeckte dieses Foto auf Facebook und las die kritischen, teils hämischen Kommentare unter dem Bild. Meine Großmutter soll Spionin gewesen sein, las ich, sie soll mit den Faschisten oder den Kommunisten oder beiden kollaboriert haben. Ich konnte diese Anschuldigungen nicht mit dem Bild zusammenbringen, das ICH von meiner Großmutter hatte. Sie ist 2006 gestorben. Ich war damals 27. Meine Großmutter hat mir immer erzählt, dass ihre Jugendfotos während der kommunistischen Verfolgung in den späten 1940er-Jahren beschlagnahmt wurden – und dann taucht auf einmal dieses Bild auf. Ich bekam es lange nicht aus meinem Kopf, weil die Sache so unglaublich war. Und es ist ja auch wirklich bizarr: Meine Großeltern machen im Kriegsjahr 1941 eine Hochzeitsreise in die Dolomiten!
Lea Ypi: "Aufrecht"
© Suhrkamp Verlag
Spionin oder Opfer? Die Geschichte hinter einem Foto
07:06 Minuten

Lea Ypi
Übersetzt von Eva Bonné
Aufrecht: Überleben im Zeitalter der ExtremeSuhrkamp Verlag, Berlin 2025389 Seiten
28,00 Euro
Die Autorin Lea Ypi entdeckt ein altes Foto ihrer Großeltern – und stößt auf Gerüchte und Geheimdienstakten. In „Aufrecht“ rekonstruiert sie eine Familiengeschichte, die tief in das Albanien totalitärer Vergangenheit führt.
Leman Ypi, Jahrgang 1918, muss eine charismatische Frau gewesen sein: klug und belesen, charismatisch, temperamentvoll und von scharfem Verstand. Jedenfalls hat Lea Ypi, ihre Enkelin, sie so in Erinnerung. Im Frühjahr 2022 stellt diese Enkelin im Archiv der ehemaligen Geheimpolizei „Sigurimi“ in Tirana den Antrag, die Akten ihrer Großeltern einzusehen. Anlass: Auf Facebook hatte jemand ein Foto der Großeltern hochgeladen. Das Bild zeigt die beiden auf ihrer Hochzeitsreise 1941 – im mondänen italienischen Wintersportort Cortina d’Ampezzo.
Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Leman und Asllan Ypi, die frisch Vermählten, zur albanischen Oberschicht gehörten: ein exklusiver Skiurlaub im Winter 1941 – das war mehr als ungewöhnlich. Was hatte es damit auf sich? Wie verhielten sich Leman und Asllan Ypi während der faschistischen und später der nationalsozialistischen Herrschaft in Albanien? Und warum genau wurden die beiden in den späten 1940er-Jahren vom kommunistischen Regime verfolgt? Das waren die Fragen, die am Beginn von Lea Ypis Recherchen standen.
„Aufrecht“ ist eine Mischung aus Memoir und historisch-politischem Essay. Auf knapp 400 Seiten verbindet die Autorin ihre sehr persönliche Familiengeschichte mit Reflexionen über Themen wie „Erinnerung“ und „Identität“. So verschlungen die Wege auch sind, die Ypi erzählerisch beschreitet, im Zentrum steht stets ihre Großmutter. Die wird als Angehörige der albanischen Minderheit im griechischen Saloniki geboren. Mit achtzehn übersiedelt die junge Frau, Angehörige des gehobenen Bürgertums, nach Tirana – aus Abenteuerlust und um dem väterlichen Einfluss zu entfliehen. Die Hauptstadt des „Königreichs Albanien“ präsentiert sich Mitte der dreißiger Jahre als Metropole der Kontraste:
Leman schlenderte ziellos herum und erkundete die Straßen dieses überfüllten Dorfs mit großen Ambitionen... Fasziniert beobachtete sie das reibungslose Miteinander von scheinbar endlosen Maultier- und Eselkarawanen und dem einen oder anderen Sportwagen; von Moscheen und orthodoxen Kirchen; von traditionell albanischer Tracht und modernen Maßanzügen; von Chanel-Parfümwolken und Schafdung-Schwaden. Hier gab es alles, und nichts ergab Sinn. An den vermüllten, chaotischen Straßen standen neugebaute Villen, zwischen elegante neoklassizistische Bauten fügten sich wimmelnde Basare ein.
In Tirana lernt Leman einen vielversprechenden jungen Mann kennen: Der Jurist Asllan Ypi, demokratischer Sozialist und Spross einer angesehenen albanischen Familie, hat zusammen mit einem Kommilitonen namens Enver Hoxha das französische Gymnasium in der Stadt Korça besucht.
Lea Ypi rekonstruiert in ihrem Buch die Lebensgeschichte ihrer Großeltern. Die Jahre der italienischen und später der deutschen Okkupation übersteht das Ehepaar in der „inneren Emigration“, die eineinhalbwöchige Hochzeitsreise nach Cortina d’Ampezzo gilt als standesgemäß. Von den Kollaborateuren, die sich in der albanischen Hauptstadt den faschistischen Besatzern andienen, halten sich die Ypis fern. Man müsse „überleben, ohne sich schuldig zu machen“, so formuliert es Leman, die Großmutter.
Die Jahre des stalinistischen Terrors
Das gilt auch für die Zeit der stalinistischen Herrschaft: 1947, zweieinhalb Jahre nach der Machtübernahme durch seinen einstigen Mitschüler Enver Hoxha, wird Asllan Ypi verhaftet und wegen angeblicher „Verschwörung gegen die Volksrepublik Albanien“ zum Tod verurteilt. Das Urteil wird in eine 20-jährige Haftstrafe umgewandelt. Bis zum Jahr 1960 schmachtet Lea Ypis Großvater im berüchtigten Foltergefängnis von Burrel. Seine alleinerziehende Frau muss Zwangsarbeit auf dem Land verrichten, als Angehörige eines „Volksverräters“ ist sie gesellschaftlich geächtet.
Lea Ypi berichtet in ihrem erschütternden Buch von den Mühlen des Totalitarismus, die im 20. Jahrhundert Millionen Menschen zermalmten. Dabei war ihre Großmutter stets bemüht, im Furor des stalinistischen Terrors so etwas wie Würde zu bewahren. Ein im Grunde aussichtsloses Unterfangen.
Lea Ypis Buch ist keine leichte Lektüre. Die Autorin wählt eine kaleidoskopartige Struktur mit Aktenzitaten und ausgiebigen Rückblenden in ihre weitverzweigte Familiengeschichte. Zugleich reichert Ypi ihren Recherchebericht mit fiktionalen Elementen an. Das kann man problematisch finden, in einer Vorbemerkung legt die Autorin allerdings offen, dass nicht alle Ereignisse in ihrem Buch „real“ seien. Der Band ist streckenweise also mehr dokumentarischer Roman als historisches Sachbuch.
Mit einer bitteren Pointe wartet „Aufrecht“ am Ende auf: Lea Ypi muss feststellen, dass in den Akten des albanischen Geheimdiensts zwei Frauen namens Leman Ypi geführt wurden. Die Staatssicherheit hat selbst nicht immer gewusst, welche der beiden sie gerade warum verfolgte. Eine kafkaeske Wende. Wenn hinter den Schicksalen der Opfer nicht so unendlich viel Leid stehen würde, wäre das Ganze fast zum Lachen.





