Lea Ypi über ihr Memoir "Frei"

Eine albanische Familiengeschichte

16:01 Minuten
Die Autorin Lea Ypi auf einen Schwarzweiß-Foto. Sie steht in einem langen Gang mit Fenstern auf beiden Seiten.
Was Freiheit wirklich bedeutet, wurde Lea Ypi klar, als sie als junges Mädchen das Ende der Diktatur in Albanien erlebte. © Penguin Random House / Stuart Simpson
Lea Ypi im Gespräch mit Andrea Gerk · 08.04.2022
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Eigentlich wollte Lea Ypi ihr Buch "Frei" über Theorien des Freiheitsbegriffs schreiben. Doch dann wurde daraus die Geschichte ihrer albanischen Familie. Deren Leben in der Diktatur sei bestes Anschauungsmaterial für das Thema, so die Autorin.
Wenn die kleine Lea im Kreise der Erwachsenen saß, wurde dort viel von den Universitäten erzählt, die ihre Eltern und deren Freundinnen und Freunde besucht hatten: Sie tauschten sich über Mitstudierende, über Dozentinnen und Dozenten aus und darüber, wer einen problemlosen Abschluss gemacht hatte – und wer sich dagegen am Ende freiwillig exmatrikuliert hatte.
Erst später fand Lea Ypi heraus, dass all diese Begriffe Codes waren, mit denen ihre regimekritischen Eltern sich und ihre Tochter vor einer Überwachung durch die albanische Geheimpolizei zu schützen versuchten. „Universität“ stand für Gefängnis, Mitstudierende für andere Gefangene, Dozenten für die Gefängniswärter. „Freiwillige Exmatrikulation“ war das Codwort für Suizid.

Der letzte stalinistische Außenposten Europas

Lea Ypi, die Philosophie und Literatur in Rom studierte und heute Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics ist, wuchs in den 80er-Jahren in Albanien auf. Das Land war seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine kommunistische Diktatur, in der Religionsausübung verboten war und Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung auch in allen anderen Bereich unterdrückt wurden. Das Land galt bis 1990 – bis die Demokratie in das Land zurückkehrte – als letzter stalinistischer Außenposten Europas.
Davon und von verschiedenen Begriffen von Freiheit handelt Ypis Buch „Frei“. Untertitel: „Erwachsen werden am Ende der Geschichte“. Es sei nicht von Anfang an geplant gewesen, ein so persönliches autobiografisches Buch über ihre Familie zu schreiben, sagt die Autorin.
„Ich wollte eigentlich ein Buch über die verschiedenen Vorstellungen von Freiheit in der liberalen und in der sozialistischen Tradition schreiben. Ich wollte die Überschneidungen aufzeigen, die es gibt, denn ich war davon überzeugt, dass es nicht so ist, dass die Liberalen immer den Freiheitsbegriff im Kopf haben oder für die Freiheit stehen und die Sozialisten immer nur für die Gleichheit.“

Freiheitsbegriff mit Leben füllen

Doch sei es ihr von Anfang an darum gegangen, nicht nur abstrakte Ideen darzustellen, sondern zu zeigen, „wie diese Ideen das Leben der Menschen beeinflussen. Und Freiheit kann hier ganz viele verschiedene Dinge bedeuten. Es kann einmal ein Versprechen sein, dann kann es ein Ziel sein, eine Bedrohung.“
Dann aber habe sie realisiert, dass in ihrer eigenen (Dissidenten-)Familie viele verschiedene Ansichten zum Freiheitsbegriff existieren, die das Thema auf geradezu ideale Weise veranschaulichen.

Der geköpfte Stalin

Gleich zu Beginn des Buches beschreibt die heute 42-Jährige einen Schlüsselmoment um das Jahr 1989/90 herum: Die zehnjährige Lea sieht in einem Park ein geköpftes Stalin-Denkmal und beobachtet Demonstrierende, die Freiheit einfordern.

Lea Ypi: "Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte"
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Suhrkamp, 2022
332 Seiten, 28 Euro

„Das war ein ganz normaler Tag in Albanien, in dem ich damals gelebt habe und von dem ich immer glaubte, dass es das freieste Land der Erde wäre“, erinnert Ypi sich. „Klar, ich wusste, dass es Mangel gab an allem Möglichen, dass es ein sehr isoliertes Land war. Aber als Kind habe ich es so gesehen, dass das eben Opfer sind, die man im Namen der Freiheit zu bringen hat.“
In diesem Augenblick habe sie realisiert, dass es in Albanien für kritische Menschen wie ihre Eltern keine wirkliche Freiheit gegeben habe.

Der Großmutter gewidmet

Ypi widmet das Buch ihrer Großmutter Nini, die einer hochherrschaftlichen Familie entstammte und in Thessaloniki geboren wurde. Später arbeite sie für die albanische Regierung und musste sich dann, als Ypis Großvater vom Regime inhaftiert wurde, als alleinerziehende Mutter durchschlagen.
Trotz allen Drangsals habe ihre Großmutter aber immer betont, sich stets frei gefühlt zu haben, sagt Ypi.

Sie bestand darauf, dass diese ganzen Unfreiheiten ihr Leben nicht beeinträchtigt haben, da sie diese moralische Idee der Freiheit aufrechterhalten konnte, nämlich freie Entscheidungen zu treffen. Und das bestand für sie darin, dass, egal wie totalitär ein Staat ist, er einem nicht die innere Würde nehmen kann.

Lea Ypi über ihre Großmutter

Für ihre Mutter dagegen sei Freiheit stets gleichbedeutend mit Nichteinmischung des Staates und mit Meinungsfreiheit gewesen – „und dass sie tun und sagen kann, was sie will“. Für ihren Vater wiederum bedeutete Freiheit, aktiv etwas tun und sich weiterentwickeln zu können.

Muss "Freiheit" immer neu verhandelt werden?

Tatsächlich habe sich dieser Wunsch für ihren Vater erfüllt: Nach dem Ende der Diktatur habe er die Leitung des Hafens von Durres übernehmen können. Die Kehrseite des neuen, liberaleren Systems: Er habe aus wirtschaftlichen Gründen viele Hafenarbeiter entlassen müssen.
Das führt zu der Frage, ob Freiheit nicht ein Begriff ist, der immer wieder neu verhandelt werden muss? Lea Ypi sagt, persönlich stimme sie ihrer Großmutter und deren Freiheitsbegriff zu. Dennoch sei es ihr wichtig gewesen, in ihrem Buch ein breites Spektrum der Freiheitsbegriffe abzubilden und nachvollziehbar zu machen.
(mkn)

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