Hisham Matar: „Meine Freunde“

Im Schatten Gaddafis

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Das Foto zeigt das Buchcover des Romans "Meine Freunde" von Hisham Matar. Im Hintergrund ist das Schwarz-Weiß-Bild eines jungen Mannes zu sehen, darüber Autorenname und Buchtitel.
© Penguin / Random House

Hisham, Matar

Übersetzt von Werner, Löcher-Lawrence

Meine Freunde Luchterhand, München 2025

538 Seiten

26,00 Euro

Von Marko Martin |
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Drei junge Libyer protestieren 1984 vor der Londoner Botschaft ihres Landes gegen die Diktatur Gaddafis. Das hat Folgen für ihr ganzes Leben, auch nach dem Sturz des Regimes, wie Pulitzer-Preisträger Hisham Matar beklemmend erzählt.
Wie unzählige andere Inlands- und Auslandsverbrechen des 2011 gestürzten Regimes von Muammar al-Gaddafi ist auch dieses ausführlich dokumentiert – und scheint doch gleichzeitig längst im kollektiven Gedächtnis verdrängt: Als sich am 17. April 1984 friedlich protestierende Libyer vor ihrer Botschaft in London versammelten, wurde aus dem Haus am St James' Square mit Sterling-Maschinenpistolen in die Menge hineingeschossen. Die Londoner Polizistin Yvonne Fletcher starb, unzählige Demonstranten wurden schwer verletzt.
Da jedoch danach Gaddafi im Falle einer Botschaftsstürmung mit tödlichen Konsequenzen für Briten in Libyen drohte, blieb der damaligen Regierung von Margaret Thatcher nichts anderes übrig, als die mörderischen Diplomaten auszuweisen und straflos ziehen zu lassen.
Um genau dieses Ereignis kreist der neue Roman von Hisham Matar, der 1970 in New York als Kind libyscher Eltern geboren wurde und bereits in seinen vorherigen preisgekrönten Büchern von den Schrecken der Gaddafi-Zeit erzählt hatte. Auch „Meine Freunde“ macht die Verheerungen, die das Regime in Leib und Seelen seiner Untertanen anrichtete, auf beklemmende Weise sichtbar.

Ein Tag in London, der alles verändert

Der Ich-Erzähler Khaled wurde 1984 als 18-jähriger Student von seiner Familie zum Studium nach England geschickt. „Niemal werde ich die Worte dafür haben, zu erklären, wie es ist, von Schüssen getroffen zu werden, die Möglichkeit zu verlieren, nach Hause zurückzukehren, und alles aufgeben zu müssen, was ich von meinem Leben erwartet hatte – warum es sich anfühlte, als wäre ich an jenem Tag auf dem St James´ Square gestorben und durch einen grotesken Zufall wiedergeboren worden.“
Khaled wird angeschossen und in einem Londoner Krankenhaus gerettet, doch kann es für ihn danach keine Rückkehr an die Universität geben: Die „Telegrafen“ genannten Regime-Spitzel unter den libyschen Studenten hatten gewiss schon nach Tripoli gemeldet, dass vermutlich auch einer ihrer Kommilitonen unter den Demonstranten gewesen war – obwohl doch Khaled und sein ebenfalls verwundeter Studienfreund Mustafa zuvor zur Sicherheit ihre Gesichter verhüllt hatten.
Das „Danach“ wird ab nun nie mehr enden und ihr ganzes Leben bestimmen. Bis hinein ins Jahr 2016, in dem Khaled – noch dem Scheitern einiger Beziehungen Single geblieben – als nunmehr fünfzigjähriger Englischlehrer durch London streift, zum ersten Mal seit jenem traumatischen Ereignis auch wieder den St James' Square betritt und sich erinnert.

Der lange Schatten der Diktatur

In diesen Stadtgang-Rückblenden ist der Roman strukturiert, in 108 Kapiteln, die immer wieder aufs Neue hineintauchen in eine Alltagswelt, die ein mörderischer Diktator mit bedrohlicher Reichweite nahezu unbewohnbar gemacht hat, umstellt von Ängsten und der tiefen Trauer, die eigene Familie nie wiedersehen zu können. Sind dann Freundschaften eine emotional erfüllende Kompensation?
Hisham Matar, der für diesen auch psychologisch ausgefeilten Roman letztes Jahr den George-Orwell-Prize erhalten hat, lässt die Frage offen. Mustafa nämlich wird zum Aktivisten, danach zum Immobilienhändler und schließlich Anfang 2011 zum Libyen-Rückkehrer – nun selbst mit einer Waffe in der Hand, im Kampf gegen das Gaddafi-Regime. In den darauffolgenden Jahren, inzwischen ein religiös gewordener Familienvater, wird er sich in den Kämpfen diverser Milizen rund um die Stadt Bengasi verstricken.

Eine fragile Freundschaft als Spiegel eines zerrissenen Landes

Dort war einst auch Khaled geboren, doch kann er sich nicht zu einer Rückkehr entschließen. Da doch auch der dritte im fragilen Freundschaftsbund, der als Schriftsteller längst verstummte Ein-Buch-Autor Hosam, nur kurze Zeit auszuharren vermag in seinem Heimatland, das auch nach Gaddafis Sturz zutiefst zerrissen geblieben ist. Bald wird er mit einer geliebten Frau wieder ausreisen, um sich in den Vereinigten Staaten anzusiedeln.
Ein Ortloser auch er, doch hat er – im Unterschied zum hektischen Dauer-Aktivisten Mustafa und dem verletzbaren Melancholiker Khaled – immerhin das Entscheidende gefunden: seine Lebensliebe. All die in den Jahrzehnten immer wieder wechselnden Konstellationen einer von politischer Willkür stets bedrängten Freundschaft aber erinnert Khaled auf eine Weise, die unvergesslich ist. Und Hisham Matar hat ein weiteres Meisterwerk geschaffen.  
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