Christian Grataloup: „Geogeschichte“
© Verlag C.H. Beck
Die historische Hinterbühne
06:51 Minuten

Christian Grataloup
Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer
Geogeschichte. Die Macht der Geografie in der WeltgeschichteVerlag C.H. Beck, München 2025390 Seiten
38,00 Euro
Herrscher, Daten und Taten sind nicht alles - in seinem Buch „Geogeschichte“ erkundet Christian Grataloup, welche Rolle Ressourcen, Verkehrswege und Klimazonen für den Verlauf historischer Prozesse spielen.
Nur mal angenommen, nicht Kolumbus hätte Amerika „entdeckt“, sondern chinesische Seefahrer, die im 15. Jahrhundert über vergleichbare nautische Fähigkeiten verfügten und unter dem Kommando eines gewissen Zheng He bereits bis Afrika vorgedrungen waren.
Hätten sie eine ähnlich grausame Extraktionspolitik betrieben wie die Spanier? Was wären die Folgen für das heutige Europa gewesen? Hypothetische Fragen, sicherlich, die allerdings zeigen, dass lineare Erzählungen, in denen es immer so kommt, wie es kommen muss, nicht die einzig mögliche Form der Geschichtsschreibung sind.
Die französische Annales-Schule weiterdenken
In seinem schlicht „Geogeschichte“ betitelten Buch wechselt Christian Grataloup die Perspektive. Anstelle der Großtaten Einzelner hebt er die Rolle von Territorien, Ressourcen, Verkehrswegen und Klimazonen beim Erfolg (oder auch Misserfolg) menschlicher Unternehmungen hervor. Der geografische Raum rückt gleichsam von der Hinterbühne ins Zentrum und wird zum historischen Akteur.
Grataloup, emeritierter Professor der Universität Paris Cité, schließt damit an Überlegungen der französischen Annales-Schule an, erweitert sie aber um das Plädoyer für ein Denken in Netzwerken und sozialen Dynamiken. Migration, Handel, Austausch, nicht Daten und Ereignisse entscheiden über den Lauf der Dinge.
Eine Weltgeschichte des Raums
Es ist eine Weltgeschichte des Raums in seiner Beziehung zum Menschen, die hier unter Zuhilfenahme zahlreicher kartografischer Abbildungen erzählt wird: von den Anfängen in der afrikanischen Savanne mit ihren milden Wintern über die Expansion von Homo sapiens nach Norden bis hin zu den schmelzenden Eisplatten des Neolithikums, die die Basis für die Besiedelung nahezu aller Ökosysteme der Erde bildeten.
Erste Vorformen von Städten entstanden, erst Jahrhunderte später allerdings kommt es zur Ausbildung der „eufrasischen Achse“, eines von Nordafrika bis weit in den fernen Osten reichenden Handels- und Kommunikationsraums.
Ohne diesen - auch durch die Abwesenheit unüberwindlicher Gebirgszüge bedingten - Strukturvorteil, so Grataloups zentrale These, wäre der bis heute nachwirkende Siegeszug Europas womöglich weniger triumphal ausgefallen.
Mit Lamas lässt sich kein Krieg führen
Schon diese grobe Skizze zeigt, dass es sich bei seinem Entwurf selbst um ein anspruchsvolles Projekt handelt. Eine Geschichte der Menschheit auf knapp 400 Seiten, das hat sonst nur Yuval Noah Harari geschafft. Manches bleibt denn auch offen, anderes spekulativ, mitunter ächzt der Gedankengang unter der Fülle dargebotener Details – wo waren wir jetzt noch gleich, bei den Neandertalern oder schon wieder bei den Wikingern? Und doch tun sich inmitten all der Spuren, Exkurse und Zeitsprünge immer wieder überraschende Verbindungen und Durchblicke auf.
Dass der schwache Widerstand der südamerikanischen Gesellschaften ihren Invasoren gegenüber sich über virologische Heimsuchungen hinaus einem Mangel an domestizierbaren Tieren verdanken könnte, mit Lamas ist, anders als mit Pferden, kein Krieg zu führen, hat man so noch nicht gelesen.
Kritik der Moderne
Am Ende steht – unvermeidlicherweise, möchte man meinen – eine Kritik der Moderne. Das Schlusskapitel ist das am wenigsten originelle dieses ansonsten erfrischend unkonventionellen Buchs. Die Zweifel am Fortschrittsdenken, die Dekonstruktion westlicher Wertvorstellungen, das Anprangern der Hybris im Umgang mit der Natur, all das gehört bei aller Dringlichkeit in der Sache mittlerweile zum Standard aktueller Kulturkritik.
Und doch hält die Geogeschichte auch hier ein Quäntchen Trost bereit: Kontrafaktisch betrachtet birgt jede historische Krisensituation auch den Keim neuer Chancen. Dass es nicht immer so kommt wie geplant (oder befürchtet), sollte Anlass zu vorsichtiger Hoffnung geben.











