Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft

Die Demokratie macht sich verletzlich

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Das Cover des Buchs "Die vulnerable Gesellschaft" von Frauke Rostalski. Vor einem grünen Hintergrund sind drei Pusteblumen, von zwei fliegen die Samen weg.
© C.H. Beck

Frauke Rostalski

Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der FreiheitC.H. Beck, München 2024

189 Seiten

16,00 Euro

Von Jens Balzer · 06.05.2024
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Wie vertragen sich Freiheit und Überregulierung? Frauke Rostalski beschreibt, wie Verletzlichkeit ins Zentrum der gesellschaftlichen Debatten rückte. Dies droht, den Kern der demokratischen Freiheit zu verletzen.
Vulnerabilität ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der Debatten der Gegenwart und unserer politischen Kultur im Allgemeinen. Das ist jedenfalls die These, die die Juristin und Philosophin Frauke Rostalski in ihrem Essay „Die vulnerable Gesellschaft“ ausbreitet.
Immer mehr Menschen, so ihre Beobachtung, empfinden sich selbst als verletzt oder verletzlich. Sie betrachten sich als Angehörige von Minderheiten, die besonderen Risiken oder Diskriminierungen ausgesetzt sind und die darum für sich besondere Rechte einklagen, um vor diesen geschützt zu werden.
Der Staat hat sich dieses Selbstbild inzwischen zu eigen gemacht und erlässt munter stets neue Gesetze, um Menschen vor allen möglichen Arten der verletzenden Ungleichbehandlung zu bewahren. Dabei wird jedoch die Freiheit aller zunehmend beschädigt.

Besonderer Schutz für Minderheiten

Dies war, so Rosalski, in besonderer Deutlichkeit während der Coronapandemie zu beobachten. Um Menschen mit einem hohen gesundheitlichen Risiko zu schützen, wurden die Freiheitsrechte der gesamten Gesellschaft in einem erheblichen Maß eingeschränkt, etwa durch Ausgangssperren oder durch die Pflicht zum Tragen von Masken.
Auch nach dem Ende der Pandemie nahm die Rücksicht auf Verletzlichkeit weiter zu. So wurde das Strafgesetzbuch um einen Paragrafen erweitert, der sich gegen „verhetzende Beleidigung“ richtet. Damit sollen Menschen aus besonderen ethnischen, religiösen oder sexuellen Minderheiten vor verletzender Sprache geschützt werden – wobei freilich immer diffuser wird, wo öffentlicher Streit und zugespitzte Formulierungen aufhören und wo die justiziable Verletzung beginnt.

Überregulierung beschädigt Freiheit

Frauke Rostalski, seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrats, betrachtet diese Entwicklung mit Sorge. Denn, so ihre Kritik, demokratische Diskurse leben vom Konflikt, vom Streit und vom eigenverantwortlichen Handeln der Diskursteilnehmer.
Mit dem überregulierten Schutz vor Verletzungen wird in Wahrheit verletzt, was in der Demokratie das Kostbarste ist: nämlich die Freiheit der Rede und der Debatten. Es sei kein Zufall, so Rostalski, dass sich in weiten Teilen der Öffentlichkeit das Gefühl verbreitet hat, dass man „nichts mehr sagen“ darf.

Leidenschaftliche Warnung

Rostalskis Plädoyer für eine offene Debattenkultur ist nicht originell, aber deswegen nicht weniger richtig. Zu weiten Teilen folgt sie den moralphilosophischen Linien, die Jürgen Habermas in seiner Diskursethik vorgezeichnet hat.
Doch in der zunächst sehr spröde erscheinenden Sprache und Argumentationsweise Rostalskis verbirgt sich eine leidenschaftliche Warnung vor der Beschädigung des demokratischen Diskurses durch seine Überregulierung; es wäre zu hoffen, dass viele Menschen diese Warnung verstehen und zum Ausgangspunkt für eine Kritik des eigenen Verhaltens, der eigenen Befindlichkeiten und Ansprüche nehmen.
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