Linda ist eine Frau jenseits der 40. Sie hat sich in ein leerstehendes, abweisendes Haus eines ostdeutschen Straßendorfs zurückgezogen. Gerade hat sie eine Operation wegen Schilddrüsenkrebs überstanden. Schwerer noch wiegt der Unfalltod ihrer 17-jährigen Tochter Sonja, dieser hat sie in einen Zustand lähmender Trauer versetzt. In der Folge hat Linda alle Brücken zu ihrem bisherigen Leben abgebrochen.
Einst war sie eine erfolgreiche, gut bezahlte Kunstmaklerin in Leipzig. Mit ihrem Mann, dem attraktiven Maler Richard, lebte sie im Zentrum einer vibrierenden Künstlerbohème. Nun hat Linda sich beinahe aufgegeben. Sie vernachlässigt ihren Körper, und sie schluckt zu viele Tabletten, für den Schlaf, gegen den Schmerz, gegen Depressionen.
Sie bestellt einen Hof, den sie auf Zeit gemietet hat, der viel zu groß ist, so dass die Arbeit niemals endet. Noch steht alles auf der Kippe, noch weiß sie nicht, ob und wie sie weiterleben wird.
Manchmal döse ich dabei ein, falle in einen traumüberladenen, kurzen Schlaf, der selten länger als eine halbe Stunde dauert. In den ersten Sekunden nach dem Erwachen ist es dann, als müsste ich alles neu lernen: wer ich war, wer ich bin, wieso ich mich hier befinde, was ich verloren habe. Die Antworten auf diese Fragen sind wie Faustschläge in die Magengrube. Buchstäblich gekrümmt schleppe ich mich in die Küche und befülle den Espressokocher, und langsam, sehr langsam richte ich mich wieder auf.
Aus dem Roman "Mein drittes Leben" von Daniela Krien
Dies ist tatsächlich der Roman einer Aufrichtung. Was für Linda nicht eindeutig ist, folgt für die Leserin aus der Erzähllogik eines Romans. Beginnt man am Tiefpunkt, muss es aufwärts gehen. Daniela Krien setzt entsprechende Signale, lässt sich allerdings viel Zeit damit, diese Erzählbewegung anzustoßen.
Zunächst wird es noch düsterer. Eine langjährige Freundin wendet sich von Linda ab. Lindas Mann Richard teilt ihr mit, dass er eine Beziehung mit einer erfolgreichen Schriftstellerin eingegangen ist. In der Folge soll die geliebte Eigentumswohnung verkauft werden.
Auch um Linda herum wuchert das Unglück, anschaulich verteilt auf etliche skurrile Figuren. Mit knappen Dialogen illuminiert Krien das Milieu der abgehängten und von der Wende enttäuschten Menschen, für die etwa die schrulligen Dörfler Klaus und Bruni stehen:
Klaus tritt heraus. Dann erzählt er mir, wen es im Dorf alles zerbröselt hat. Den Christian Kühn hat der Alkohol zerbröselt, den Thomas Haffner seine böse Frau, den Sohn von den Schmidts eine Meningitis im Kleinkindalter und die Tochter von Gunhild und Lothar die Partydrogen. Ein Haufen zerbröselter Menschen. "Und ich ?", frage ich ihn.
"Du musst aufpassen. Wer zu lange alleine lebt, wird komisch. Schrullig. Und dann ..." "Und dann zerbröselt’s mich", beende ich den Satz.
Aus dem Roman "Mein drittes Leben" von Daniela Krien
Die jüngere deutsche Geschichte liegt wie ein feines Netz um diese Erzählung von Trauer und Resilienz. In den Verlusten der Erzählerin und der Dorfbewohner sind die Wendejahre aufgehoben. Über Grete Adomeit, so hieß die ursprüngliche Besitzerin des Hofes, findet der Roman sogar Anschluss an Gewalt- und Fluchterfahrungen aus Ostpreußen. Dadurch entsteht eine Tiefenschärfe, welche diese Erzählung von Lindas Rückkehr in ihr Leben über das allzu Gefällige hinaushebt.
Daniela Krien vollzieht zudem die bekannten Phasen der Trauer nach, von der Lähmung der Erzählerin über aufbrechende Emotionen bis zur Integration des Geschehenen. Sie tut dies stilsicher und mit psychologischer Sachkenntnis, nur selten kippt ihre Prosa ins Pathos. Linda sortiert und räumt auf, sie führt ein klärendes Gespräch mit der Mutter, verabschiedet ihre Freundin Esther und widmet sich immer wieder der Arbeit in einem Garten:
Die Zeit scheint hier im Garten anderen Regeln unterworfen zu sein. Eine Stunde kommt mir vor wie wenige Minuten und ein halber Tag wie eine Stunde. Meine Sinne schärfen sich, scheinbar zusammenhanglose Gedanken kommen und gehen, und als ich mich auf den Heimweg mache, spüre ich eine Ruhe und Zufriedenheit, die mich bis in den Abend hinein trägt.
Aus dem Roman "Mein drittes Leben" von Daniela Krien
Zwischen erzählter und erlebter Zeit vergehen in diesem Roman rund vier Jahre. Anschaulich gemacht wird diese Zeit im Wachsen und Verblühen der Pflanzen, die Linda pflegt. Sie stehen als Allegorie für den eigentlichen Erzählgegenstand dieses Romans.
„Mein drittes Leben“ verhandelt die Vergänglichkeit des Menschen und die Möglichkeit, trotz aller Widerstände Glück zu finden. Das ist ein großer Stoff, der hier mit sprachlicher Eleganz und psychologisch treffend inszeniert wird.