Cum/Ex - den Begriff hat man oft gehört und dennoch hilft eine Erklärung: Bei Cum/Ex-Geschäften tätigen Investoren und Banken Aktiendeals um den Dividendenstichtag einer Aktiengesellschaft herum und lassen sich dann vom Staat Kapitalertragssteuern erstatten, die sie nicht gezahlt haben. Dass das illegal sei, sei ihr beim ersten Blick in die Akte klar gewesen, schreibt Anne Brorhilker:
„Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich nach dem Abendessen und den Nachrichten an meinen Küchentisch gesetzt und mir das Material in Ruhe angeschaut habe. Ich weiß noch, wie ich da saß und die Abläufe Schritt für Schritt skizzierte. […] Als ich meine Skizze vor mir sah […], war ich mir sicher: Cum/Ex kann auf keinen Fall rechtmäßig sein.“
Aus „Cum/Ex, Milliarden und Moral“
Oft wurde einfach keine Anklage erhoben
Das war 2013, zu einer Zeit, als mit dem Begriff nur einige Investmentbanker und Steuerrechtler etwas anfangen konnten. Für solche komplizierten Fälle gäbe es bei Staatsanwaltschaften eine schlanke Lösung, schreibt Brorhilker. Weil viele Kolleginnen und Kollegen überlastet seien, sich die nötige Expertise nicht zutrauten und sich nicht mit den Scharen von Anwälten aus der Finanzbranche auseinanderzusetzen wollten, erhöben sie oft keine Anklage:
„Vielmehr wird oft von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, das Verfahren nach § 153a der Strafprozessordnung auf Grundlage einer Ermessensentscheidung gegen Zahlung einer Geldauflage einzustellen. Einen ‚Deal‘ machen, so heißt das. Auf diese Art und Weise fließt zwar direkt ein Geldbetrag an den Staat – allerdings […] fließt bei einem Deal oft nur ein Bruchteil der Summe, die im Falle einer Verurteilung fließen würde.“
Aus „Cum/Ex, Milliarden und Moral“
Obwohl ihr die ganze Schadenshöhe damals nicht bewusst gewesen sei, habe sie die Täter nicht so davonkommen lassen wollen, schreibt die Juristin.
Das Buch besteht aus 12 Kapiteln. Es beschreibt, wie die Staatsanwältin gemeinsam mit dem Landeskriminalamt Düsseldorf eine europaweite Razzia gegen die Täter vorbereitete, Kronzeugen fand und schließlich erste Täter vor Gericht brachte. Brorhilker erzählt, wie sich die Täter als zu Unrecht beschuldigt darstellten und durch gezielte Lobbyarbeit versuchten, Cum/Ex als legal zu deklarieren. Zum Beispiel durch Fachaufsätze:
Später stellte sich heraus, dass viele der Autoren derartiger ‚Fachaufsätze‘ entweder selbst in Cum/Ex-Betrug verwickelt waren oder aus dem Umfeld der Täter stammten. Mit den Artikeln sollte offensichtlich gegen die erhöhte Aufmerksamkeit der Finanzverwaltung und die beginnenden strafrechtlichen Ermittlungen angeschrieben werden, um sie von weiteren Prüfungen abzuhalten.
Aus „Cum/Ex, Milliarden und Moral“
Außergewöhnliche Transaktionen
Eine andere Behauptung: Die Cum/Ex-Geschäfte seien den Beschuldigten bei den unzähligen Transaktionen, die sie jeden Tag abwickelten, nicht aufgefallen. Das sei Quatsch, schreibt die ehemalige Oberstaatsanwältin.
Cum/Ex, das waren außergewöhnliche Transaktionen, die an zahllosen Stellen in den technischen Systemen Alarmsignale hätten auslösen müssen. Zu groß, zu viel, zu schnell! Damit diese Signale ausblieben, mussten die technischen Systeme oft aufwendig umgestaltet werden. […] Das waren alles andere als alltägliche Bankgeschäfte.
Aus „Cum/Ex, Milliarden und Moral“
Brorhilker geht allerdings nicht nur mit der Finanzbranche hart ins Gericht. Sie kritisiert auch die Arbeit der Finanzbehörden. Insbesondere in Hamburg sei eklatant, wie wenig Aufklärungsinteresse Verantwortliche gezeigt hätten, schreibt sie. Im Jahr 2020 mussten sich daher der frühere Erste Bürgermeister Hamburgs, Olaf Scholz, und der frühere Finanzsenator Peter Tschentscher den Fragen eines Untersuchungsausschusses stellen. Doch sie seien nicht genug zur Verantwortung gezogen worden, findet Anne Brorhilker:
Finanzminister*innen tragen grundsätzlich die Verantwortung für Entscheidungen der Finanzverwaltung. Das gilt auch für den damaligen Finanzsenator Peter Tschentscher: Als Finanzsenator leitet er die Finanzverwaltung, er hat die Rechts-, Fach- und Dienstaufsicht inne. In dieser Rolle muss er darauf hinwirken, dass die Entscheidungen seiner nachgeordneten Verwaltung nicht nur rechtmäßig sind, sondern auch zweckmäßig.
Aus „Cum/Ex, Milliarden und Moral“
Missstände in den Behörden
Darüber hinaus benennt die Autorin zahlreiche Probleme, die aus ihrer Sicht bundesweit in den Behörden auftreten: Machtmissbrauch durch einzelne Vorgesetzte, zu starre Hierarchien, zu wenig Austausch zwischen Behörden, zu wenig Aufklärungswille bei einigen Mitarbeitenden und Vorgesetzten mit Blick auf Steuerhinterziehungsfälle.
Das Buch ist kein literarisches Meisterwerk. Die Autorin verliert sich häufiger in unwichtigen Details, und die harsche Kritik an anderen geht einher mit einer guten Portion Selbstlob. Allerdings sind die Ermittlungen zu Cum/Ex schließlich auch ein großer Dienst an der Gesellschaft. Das Buch gibt Einblicke in das Gehabe der Finanzindustrie und die Missstände bei Behörden. Die kann Anne Brorhilker nur so klar benennen, weil sie keine Beamtin mehr ist. Sie schließt mit konkreten Forderungen nach mehr Personal, mehr Transparenz und einer zentralen Stelle auf Bundesebene für die Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Aus Sicht der Steuerzahler ist sehr zu hoffen, dass das Gehör findet.