Revolutionäre Bildungsbürger

Rezensiert von Reinhard Mohr · 02.09.2012
Warum träumen bürgerliche, gut situierte Intellektuelle aller Generationen von der Revolution? Dieser Frage ging der Philosoph Raymond Aron schon in den 50er-Jahren nach. Sein Buch "Opium für Intellektuelle" ist noch immer aktuell.
In der Menschheitsgeschichte gibt es ein paar ewige Rätsel: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Und: Wie kommt es, dass nahezu jede Generation von Intellektuellen von der Revolution träumt, auch wenn sie historisch noch so oft gescheitert ist?

Gerade wieder wurden wir Zeugen dieses Schauspiels, bei dem Zehntausende an der Pariser Bastille François Hollandes Wahlsieg feierten, als handle es sich um den Beginn einer neuen Zeitrechnung, um das Morgengrauen einer historischen Befreiung. Gut 30 Jahre vorher galt François Mitterrand eine ähnliche Aufwallung der Art, wie sie in Frankreich besonders ausgeprägt ist.

Stets geht es um die Überschreitung der Gegenwart, um Transzendenz und die Sehnsucht nach dem Sinn der Geschichte, kurz: um die Utopie einer Gesellschaft der Freien, Gleichen und Brüderlichen. Dieser fast religiös anmutende Überschwang sorgt jedoch dafür, dass der Absturz in die Realität unweigerlich folgen muss. Dann werden Wunden geleckt und Bücher geschrieben - bis zur nächsten Revolution.

Raymond Aron hat über all das schon vor 55 Jahren ein Buch geschrieben, mit dem er zum Gegenspieler von Jean-Paul Sartre wurde. Sein Titel spricht für sich: "Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung". Der 1983 verstorbene Philosoph versuchte schon 1957, jenes immerwährende Rätsel zu lösen, indem er folgenden Fragen nachging:

"Warum kommt der Marxismus in einem Frankreich wieder in Mode, dessen wirtschaftliche Entwicklung die Voraussagen des Marxismus widerlegt hat? Warum haben die Ideologien des Proletariats und der Partei einen umso größeren Erfolg, je kleiner die Zahl der Angehörigen der Arbeiterklasse ist?"

Auf heute bezogen: Warum sitzt Sarah Wagenknecht, eine überzeugte Kommunistin, die noch vor wenigen Jahren Stalin verteidigt hat, in jeder Talkshow, zu der nicht gerade der Dandy Jakob Augstein eingeladen ist? Occupy your Fernseh-Studio? Worin besteht also der endemische Drang gut situierter Bildungsbürger, der totalen, ja gewaltsamen Umwälzung aller Verhältnisse das Wort zu reden?

Auch der liberale Denker Aron kann letztlich nur sachdienliche Hinweise liefern, aus denen sich immerhin eine Hypothese bauen lässt. Die geschichtliche Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, zwischen Erkenntnis und Handeln, Wunsch und Realität schießt sich offenbar immer wieder in der intellektuellen Sehnsucht nach einer endgültigen Synthese zusammen, einem Tigersprung in die Zukunft.

So formulierte etwa der Existentialist und Sartre-Freund Maurice Merleau-Ponty in seinem Buch "Humanismus und Terror" 1947 in vollem Ernst:

"Genau betrachtet ist der Marxismus nicht eine beliebige Hypothese. Es ist ganz einfach die Verkündung der Bedingungen, ohne die es keine Menschheit geben wird."

Darunter macht man es bis heute nicht, und wenn praktischerweise noch das "Weltproletariat" zur Hand ist, dessen Selbstbefreiung streng wissenschaftlich zugleich die Weltbefreiung bedeutet, dann mündet diese Eschatologie der Menschheit auch noch in die Sinnstiftung ihrer eigenen Geschichte.

Wunderbar: Das Denken wird zur säkularisierten Religion und die Revolution zum Mythos, zum Tagtraum, der durch die Wirklichkeit nicht widerlegt, sondern ratifiziert wird. Ein geschlossener Kreislauf. Immanenz statt Transzendenz. Was mit Kritik an den herrschenden Verhältnissen beginnt, wird so selbst doktrinär, ideologisch, hermetisch, scheinbar unanfechtbar. Ein Zirkelschluss aus Zement. Aron schreibt:

"Man erkennt unschwer die Struktur des Gedankens vom Tausendjährigen Reich wieder: Messias, Bruch der Entwicklung, Königreich Gottes."

Ein verweltlichter Erlösungsglaube, der Intellektuelle womöglich gerade deshalb anzieht, weil ihr analytischer Rationalismus nur zu oft an die Grenzen der Wirklichkeit stößt, folgenlos bleibt, grau und trocken. Auch sie drängt es zur Tat. Warum dann aber kein Reformismus, die konkrete Verbesserung unhaltbarer Zustände?

Ganz einfach: Weil er mühsam ist. Für den Intellektuellen, der in der Politik nicht zuletzt Zerstreuung suche, so Aron ...

" ... ist eine Reform langweilig und eine Revolution aufregend: Die Reform ist prosaisch, die Revolution poetisch; die Reform gilt als das Werk von Funktionären, die Revolution jedoch als das des Volkes."

Und das ist nicht zimperlich:

"In Frankreich spaltet man den Kapitalismus am liebsten mit einem Säbelhieb …"

... weiß Aron, selbst wenn die Waffe nur aus Pappe ist. Das aber reicht zur erfolgreichen Selbstsuggestion: Alles ist möglich. Hier und jetzt. Sogar die Zeit bleibt stehen. Eine lyrische Fantasie. Kein Wunder, dass sich ihr die Kunst-Bohème stets mit Wonne hingab. Auch wenn immer wieder das Ende des ideologischen Zeitalters beschworen wurde, so gilt Raymond Arons Warnung bis heute:

"Wenn aber die Toleranz nur aus dem Zweifel geboren wird, dann lehre man den Zweifel an Vorbildern und Utopien, man lehre, die Propheten des Heils und die Verkünder von Katastrophen in ihre Schranken zu weisen."

Raymond Aron: Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung
Aus dem Französischen von Klaus Peter Schulz
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1957