Rettungsinsel im Holocaust

Wie das Dorf Saint-Martin-Vesubie den Juden half

Die Hall of Names in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem.
Die Hall of Names in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem © dpa/picture-alliance/Michael Kappeler
Von Jens Rosbach · 06.01.2017
Im Süden Frankreichs geschah im Zweiten Weltkrieg so etwas wie ein Wunder: In dem Bergdorf Saint Martin-Vésubie kamen mehr als 1000 Juden unter und hatten ihr Auskommen. Kürzlich erhieten die Bewohner – teils posthum – die Auszeichnung "Gerechter der Völker" von Yad Vashem.
Nördlich von Nizza liegt, in den Bergen oberhalb der Côte d’Azur, ein malerischer Luftkurort – beliebt bei Wanderern und Skifahrern: Saint-Martin-Vesubie. Hier trug sich 1942/43, mitten im Zweiten Weltkrieg, Unglaubliches zu. In dem Dorf versteckten sich rund 1200 Juden, um der Nazi-Vernichtung zu entgehen.
Die Shoah-Überlebende Danielle Baudot-Laksine, heute 76 Jahre alt, erinnert sich, dass die französischen Bauern die Flüchtlinge mit offenen Armen aufnahmen"
"Es gilt freilich festzuhalten, dass die Mieten für die Unterbringung der Juden bezahlt worden waren und dass die Einwohner von Saint-Martin-Vésubie alle damit sehr zufrieden waren. Denn seit Kriegsausbruch 1939 hatten sie ja nichts mehr vermieten können, das hatte sie ruiniert. Das ganze Dorf lebte ja geradezu vom Tourismus, vor allem von den reichen Amerikanern und Engländern. Plötzlich aber - ab Herbst/Winter 1939/40 - kam jedoch kein Tourist mehr. Das war ein wirtschaftlicher Ruin."
Nun strömten hunderte Juden, die zumeist aus Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien und Ungarn hierhergeflohen waren, ins südfranzösische Dorf. Sie wurden in Hotels und Touristen-Zimmern untergebracht. Ein jüdisches Komitee in Nizza zahlte dafür. Auch das American Jewish Committee habe dorthin Geld überweisen können, erzählt Baudot-Laksine.
"Nun kann man wirklich nicht sagen, dass diese Vermieter 'Helden' waren. Denn sie bekamen ja Geld dafür von den Juden und waren damit sehr zufrieden."

Die Juden arbeiteten für die Bauern

Danielle Baudot-Laksine ist die Tochter eines russisch-jüdischen Zahnarztes und einer spanischen Mutter, die in Südfrankreich lebten. Als die Deportation drohte, konnte sich die Familie auf einem Bauernhof nahe Saint-Martin-Vesubie verstecken. Danielle war damals zwei, drei Jahre alt. Später recherchierte sie, als Schriftstellerin und Historikerin, wie die vielen Juden im Département Alpes-Maritimes überleben konnten, trotz ihrer Armut.
"Sie ernährten sich, indem sie für die Bauern arbeiteten. Da ist der Fall von Lea R., die jetzt 90 Jahre alt ist und in Israel lebt. Ich stehe in telefonischem Kontakt mit ihr. Das war eine Familie mit sechs Kindern. Die Mutter, die keinerlei Einkünfte hatte, schickte täglich ihre Kleinen mit einem leeren Korb zu den Bauern, und diese Kinder kamen immer mit einem mit Karotten und Kartoffeln gefüllten Korb zurück, womit die Suppe gekocht werden konnte."
Die Situation war bizarr: Die Nazis jagten europaweit Juden. Im deutsch-besetzten Nordfrankreich wurden die Verhafteten in Viehwaggons gesperrt und nach Auschwitz deportiert. Und in Südfrankreich lieferte das Vichy-Regime tausende, zumeist ausländische, Juden an die Deutschen aus. Nur im italienisch besetzten Zipfel Südfrankreichs wurden die Emigranten nicht behelligt. Mussolinis Generäle, die den Rassismus ablehnten, sperrten sich gegen eine Auslieferung an den deutschen Achsenpartner. Die Italiener ließen die Juden vielmehr in bestimmte Orte an der Côte d’Azur bringen, um sie vor den französischen Vichy-Behörden zu schützen. Die Verfolgten kamen unter anderem nach Saint-Martin-Vesubie, wo sie sogar eine eigene Synagoge einrichten konnten wie auch eine Talmudschule. Die insgesamt zehn Monate der italienischen Besatzung gewährten plötzlich ein Stück normales Leben. So wurde in dem Dorf eine Flüchtlingsfrau berühmt für ihre Nähkünste.

Alle Frauen im Dorf wuschen gemeinsam ihre Wäsche

"Da war etwa Marya Hartmayer, die aus Silberfäden Schmuckstücke fabrizierte, die von den Frauen des Dorfes gekauft wurden. Man tauschte grundsätzlich alles. Denn es gab so gut wie kein Geld. Im Übrigen wuschen alle Frauen des Dorfes gemeinsam ihre Wäsche; es gab insgesamt drei Waschhäuser. Sie waren befreundet. In Saint-Martin-Vesubie wurde nicht Französisch gesprochen, sondern ein regionaler Dialekt - und nun sprach man auf der Straße Deutsch, Englisch und – Jiddisch!"
Arno Münster ist emeritierter Philosophieprofessor, der in Nizza lebt. Er hat die Zeitzeugin Baudot-laksine befragt und sich mit der Solidarität der Bevölkerung an der Côte d’Azur beschäftigt:
"Also die Solidarität der Bevölkerung scheint mir hier größer gewesen zu sein als im übrigen Frankreich. Vor allem im Frankreich der Vichy-Regierung oder auch von den Deutschen besetzten Nordfrankreich – dort die Juden massiv denunziert wurden. Und jeden Tag Berge von Denunziationsschreiben in der Polizeipräfektur eintrafen. Also dergleichen gab es hier nicht!"
Dass es im südfranzösischen Bergdorf Saint-Martin-Vesubie nicht nur um Mieteinnahmen ging sondern um Mitmenschlichkeit - das zeigte sich spätestens ab dem 8. September 1943. An diesem Tag kapitulierten die Italiener vor den Alliierten – und zogen aus Südfrankreich ab. Die Deutschen rückten nach.
NS-Wochenschau: "An der Südgrenze des Reiches. Deutsche Streitkräfte auf dem Marsch nach Italien. Die deutsche Wehrmacht kämpft im Süden des Kontinents nunmehr frei von allen Hemmungen weiter für die Freiheit Europas!"
An der Côte d’Azur begann die Gestapo, Juden zu verhaften. Doch mehr als eintausend Flüchtlinge aus Saint-Martin-Vesubie konnten über die Südalpen nach Italien fliehen, wo zwei Drittel von ihnen überlebten. Die katholischen Bauern halfen bei der Flucht. Einige Franzosen versteckten sogar Juden in ihren Häusern und riskieren somit das eigene Leben. 73 Jahre später, im vergangenen Herbst, wurden schließlich zehn mutige Dorfbewohner von Saint-Martin-Vesubie von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem ausgezeichnet - als "Gerechte unter den Völkern".
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