Historiker: Judenverfolgung im Dritten Reich war ein öffentliches Ereignis

Moderation: Jürgen König · 10.05.2006
Der Historiker Peter Longerich belegt in seinem Buch sein Buch "Davon haben wir nichts gewusst! Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 - 1945", dass die deutsche Bevölkerung sehr wohl über die Vernichtung der Juden informiert war, deren Verfolgung öffentlich vor sich ging. Der Satz "Davon habe ich nichts gewusst" sei so etwas wie eine kollektive Abwehrhaltung der Deutschen nach dem Krieg gewesen.
König: "Davon haben wir nichts gewusst" - Nach 1945 wurde das zum meisten Satz der Deutschen. Gesprochen immer dann, wenn es um die Judenverfolgung, um den Holocaust ging. Ein ganzes Volk, so schien es, stand plötzlich unter Amnesie, wollte nichts mitbekommen haben von KZs und Zwangsarbeit, von Tod und Mord. Dieses "Nichts gewusst haben wollen" wurde so stereotyp von den damals lebenden Zeitgenossen wiederholt, dass es bald schon zur offiziellen Lesart der Nazidiktatur avancierte: Hier die bösen Nazis, die an allem schuld waren, da die guten, weil unwissenden Deutschen.

Doch das kann so nicht stehen bleiben. In seinem neuesten Buch "Davon haben wir nichts gewusst, die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 - 1945", in diesem Buch zeigt der Historiker Peter Longerich: Das Naziregime hat immer wieder gezielte Hinweise auf die Vernichtung der Juden gegeben, hat die Bevölkerung ganz gezielt zu Mitwissern eines ungeheuren Verbrechens machen wollen. Guten Morgen, Herr Longerich!

Longerich: Guten Morgen!

König: Die Nazis hätten immer wieder gezielte Hinweise auf die Judenvernichtung gegeben. Die Volksgenossen sollten zu Mitwissern gemacht werden. Warum?

Longerich: Nun, ich denke, man muss zunächst mal davon ausgehen, dass ist eigentlich wenig bekannt, dass die Judenverfolgung im Dritten Reich ein öffentliches Ereignis war, sie öffentlich vor sich ging. Und das gilt auch für die letzte Phase, also das, was wir heute als Endlösung bezeichnen, für die Ermordung der Juden. Das Regime sandte immer wieder solche Signale aus und gab direkte Hinweise auf den vor sich gehenden Massenmord, ohne jedoch im vollen Umfang die Einzelheiten bloßzulegen. Und die Idee war, eine Atmosphäre zu schaffen, indem dem Einzelnen klar war: Wir hängen mit da drin. Wir sind Mitwisser. Wir sind mitschuldig und wir können diesen Krieg auf keinen Fall verlieren, weil wir sonst die Konsequenzen dieses Verbrechens zu tragen haben. Und ich denke, diese Botschaft ist seit 1942, dann 1943 sehr stark durch das Regime ausgesandt worden.

König: Gab es dann auch schon eine systematische Herbeiführung dieser Komplizenschaft von 1933 an?

Longerich: Nun, bis 1941 hat sich ja die Judenverfolgung wirklich vor aller Augen vollzogen. Niemand kann ja sagen, nichts von den Boykotts 1933 oder von den Nürnberger Gesetzen oder von der Kristallnacht mitbekommen hätte. Auch die Deportationen 1941/'42 verliefen ja in den meisten Städten buchstäblich unter den Augen der Menschen. Es gibt ja mittlerweile zahlreiche veröffentlichte Fotoserien aus verschiedenen Städten, die zeigen, wie Kolonnen von jüdischen Menschen durch die Stadt geführt werden am helllichten Tage und wie die Bevölkerung Spalier steht und sich das anschaut. Also bis zu diesem Zeitpunkt kann von einem Geheimnis ja wohl wirklich keine Rede sein.

König: Die konkreten Einzelheiten des Massenmords unterlagen dann doch einer strikten Geheimhaltung, wurden aber immer wieder unterbrochen. Wie passierte das? Was waren das für Zeichen, die dann das Regime aussandte?

Longerich: Man wird in der Tat, in den Medien der damaligen Zeit vergeblich etwa Hinweise auf das Vernichtungslager Auschwitz finden. Man wird keine Berichte über Gaskammern oder über Gaswagen finden. Aber es gibt doch eine Reihe von sehr deutlichen Erklärungen von führenden Nationalsozialisten, Hitler und anderen aus den Jahren '42 und '43, in denen sie ganz deutlich von der Vernichtung und später von der Ausrottung der Juden sprachen. Und das zu einem Zeitpunkt, zu dem eben Gerüchte über Erschießung und auch Gerüchte über Mord mit Hilfe von Gas in der Bevölkerung kursierten. Also diese öffentlichen Äußerungen nahmen Bezug auf solche Gerüchte und bestätigten sie.

Es gibt aber noch andere Hinweise. Zum Beispiel, wenn Sie sich zum Beispiel die Provinzpresse anschauen, dann erscheinen dort, vor allem im Jahr 1943, eine ganze Reihe von Artikeln, die man nur verstehen kann, wenn man davon ausgeht, dass der Leser dieser Artikel, der damalige Leser, ein ungefähres Wissen über die Ermordung der Juden besaß. Denn es heißt in diesen Artikeln etwa, dass die Methoden, wie die Judenfrage gelöst würden, zwar unschön seien, aber dass sie doch durchgesetzt werden müssten und ähnliches mehr.

Also, diese Artikel sind in einem Geist geschrieben, dass man sozusagen auf der Seite der Leserschaft voraussetzen muss, dass dort eben ein ungefähres Wissen darüber vorhanden war, dass die Menschen, die deportiert wurden, in den Tod deportiert wurden.

König: Das heißt also, jeder kannte die grausame Realität der KZs. Wusste en détail über die Art, wie die Juden umgebracht wurden, Bescheid?

Longerich: Die Konzentrationslager selbst waren in Deutschland ja kein Geheimnis. Was ein Geheimnis war, das waren die Vernichtungslager in Polen oder in den annektierten polnischen Gebieten. Es gab Gerüchte über den Einsatz von Giftgas zur Ermordung von Juden und es gab massive Informationen und Gerüchte über Massenerschießungen. Die Deportationen waren wie gesagt offensichtlich und es herrschte, wenn man jetzt zeitgenössische Quellen sich anschaut, etwa Tagebücher und Briefe, dann kann man sagen, dass in der Bevölkerung ein weit verbreitetes Wissen darüber vorherrschte, dass die Menschen, die deportiert werden, in den Tod deportiert wurden. Ohne dass man jetzt im Einzelnen genau wusste, wo und wie der Mord an den europäischen Juden geschah.

König: Peter Longerich ist auch Professor für Moderne Deutsche Geschichte und Direktor des Research Centre for the Holocaust and 20th Century History am Royal Holloway College der Universität London. Herr Longerich, woher stammen Ihre Erkenntnisse? Gibt es neue Quellen, die bislang geheim waren oder unbekannt waren?

Longerich: Ja, das Erstaunliche ist eigentlich, dass wir tatsächlich erst 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges die primären Quellen haben, die es uns erlauben, die Propaganda der Nazis in Bezug auf die sogenannte Judenfrage zu rekonstruieren. Wir haben jetzt erst, seit Beginn des Jahres, eine vollständige Edition der Goebbels-Tagebücher. Wir können also im Detail nachlesen, was im Kopf des Masterminds hinter dieser Propaganda vor sich ging. Aber es gibt auch andere Quellen. Zum Beispiel habe ich für dieses Buch zum ersten Mal gründlich ausgewertet, die täglichen Protokolle einer internen Konferenz, die Goebbels jeden Tag abhielt, und in denen er im erstaunlichen Maße Einzelheiten über die Verfolgung der Juden, über die Propagandataktik hinsichtlich der Verfolgung und so weiter seinen Mitarbeitern bekannt gab.

König: Die deutsche Zeitgeschichtsforschung hat sich ja doch lange um dieses Thema gedrückt. Warum eigentlich?

Longerich: Ja eigentlich müssten Sie meine Kollegen fragen, die dieses Buch nicht geschrieben haben.

König: Da haben Sie Recht.

Longerich: Es ist für mich schwierig zu beantworten. Aber es scheint so zu sein, dass man zunächst einmal in Deutschland versuchte, na ja auf der einen Seite die Strukturen des Regimes präzise herauszuarbeiten. Auf der anderen Seite hat man dann sich sehr stark Gedanken gemacht über die Tensionen der führenden Nazis und so weiter, aber eine wirklich dichte Geschichte der Einstellung der normalen deutschen Bevölkerung zu diesem ja sehr schwierigen und sehr sensiblen Problem. Das ist ein Thema, wo es offensichtlich mehrere Jahrzehnte bedarf, bis sich wirklich hier im breiten Umfang, in der Geschichtswissenschaft bis eine entsprechende Offenheit hier vorhanden ist.

König: Was folgt denn nun aus den Arbeiten zu Ihrem neuen Buch? Welche Basis hatte die Judenverfolgung innerhalb der deutschen Bevölkerung?

Longerich: Um diese Frage wirklich umfassend beantworten zu können, müsste man natürlich auch mehr über den Antisemitismus vor 1933 wissen. Leider ist es so, dass hier relativ wenig bisher in der Geschichtswissenschaft geschehen ist. Wir wissen tatsächlich relativ wenig über das Ausmaß des Antisemitismus in der Weimarer Republik. Wir wissen auch relativ wenig über das Ausmaß des Antisemitismus im so genannten Dritten Reich. Zum Beispiel welche Rolle spielten etwa antisemitische Parolen, Rituale und so weiter innerhalb der lokalen Organisation der NSDAP. Darüber wissen wir relativ wenig.

Was ich versuche in dem Buch zu zeigen, ist, dass die nationalsozialistische Judenpolitik, die Judenverfolgung eben auch in der allgemeinen Bevölkerung zunächst einmal durchgesetzt werden musste. Es gab eine solide, starke Gruppe von fanatischen Antisemiten. Aber die Politik musste in der allgemeinen Bevölkerung tatsächlich Schritt für Schritt durchgesetzt werden. Es war eine Art Erziehungsprozess. Denn sonst wäre es ja nicht notwendig gewesen, dieses Thema über einen so langen Zeitraum immer wieder in großen Propagandakampagnen in der nationalsozialistischen Öffentlichkeit zu behandeln.

Man kann auch sehr deutlich sehen, dass diese Propagandakampagnen immer wieder mit Hilfe von repressiven Maßnahmen abgestützt werden mussten, weil die Menschen der Propaganda alleine offensichtlich nicht folgten. Es gab da also große Reserven gegenüber dieser radikalen Behandlung der so genannten Judenfrage. Das Regime musste hier massiv nachsetzen, aber man kann sagen, dass es ihnen immer wieder gelang, die Bevölkerung auf das Verhalten gegenüber Juden einzustellen, das sie sich gewünscht hatten, sie, das Regime.

König: Sie haben das Buch von Daniel Goldhagen erlebt, hätte ich bald gesagt, "Hitlers willige Vollstrecker". Stimmen Sie zu?

Longerich: Nein, dem stimme ich überhaupt nicht zu. Das Problem ist, das Buch hat natürlich Verdienste, das ist vollkommen klar, die Verdienste liegen vor allen Dingen in der anschaulichen Schilderung von Mordtaten, insofern, dass eben hier deutlich wird, dass die Täter tatsächlich nicht nur Schreibtischtäter waren oder rein ausführende Organe, sondern Menschen, die tatsächlich auch zum Teil von einem brutalen antisemitischen Vorstellungen vorangetrieben waren.

Aber die These, dass sozusagen die Erklärung für dieses grausame Verhalten darin liegt, dass es etwas wie einen eliminatorischen Antisemitismus, so nennt er das ja, einen Vernichtungsantisemitismus, sozusagen im deutschen Volkscharakter gibt, diese These ist seiner Zeit nicht ausreichend belegt worden. Er ist dafür eigentlich auch von allen Historikern kritisiert worden und es geht aber einfach darum, diese Frage, die er aufgeworfen hat, nun einmal etwas präziser zu untersuchen, und das ist eben genau das, was ich eben in dem Buch auch versucht habe.

König: Aber noch mal gefragt, was ist denn mit denen, die heute noch sagen, ich oder unsere Familien damals, wir haben von alledem nichts gewusst?

Longerich: Man muss dann eben präzise nachfragen. Was ist damit gemeint, davon? Haben sie überhaupt nichts von der Judenverfolgung mitbekommen? Haben sie davon nie etwas gehört? Worauf bezieht sich dieses davon wirklich? Oder bezieht sich das nur auf die Vernichtungslager? Aber, dann hat man vielleicht doch andere Dinge gesehen? Mir erscheint auch immer diese Betonung, man habe nichts gewusst, etwas verdächtig zu sein, denn etwas, also diese Negation des Wissens bedeutet ja nicht, dass man nicht bestimmte Informationen oder Hinweise oder Teilinformationen hatte. Also der Satz heißt ja nicht: "Ich habe niemals gehört, dass es so etwas wie eine Judenverfolgung gegeben hätte", sondern der Satz lautet ja eben anders. Und das macht ihn, meine ich, verdächtig. Es scheint mir dahinter eine kollektive Abwehrhaltung zu stecken.

König: Wie fühlt sich eigentlich ein Historiker, der Tag aus Tag ein diese grauseligen Themen recherchiert, der ganz notgedrungen eintauchen muss, immer wieder aufs Neue in diesen ganzen ideologischen Wust, in die Gedankenwelt dieser Mörder?

Longerich: Ja nun, wir sind nun dafür auch ausgebildet worden und beschäftigen uns in der Regel über längere Zeiträume mit diesen Dingen und man lernt dann, in einem Dokument eine Ressource von Informationen zu sehen, auch wenn dieses Dokument zum Teil grausame Dinge beschreibt, und es ist nicht etwas, was einen sozusagen direkt emotional ins Gesicht springt. Das gibt es vielleicht auch in anderen Berufsgruppen, denken Sie etwa an Mediziner und ähnliche, die dann doch eine gewisse Distanz zu ihrem Gegenstand entwickeln. Das ist ein ganz normaler Prozess der Professionalisierung. Es gibt natürlich dann immer schon wieder Ausnahmesituationen, in denen man wirklich auch unmittelbar emotional betroffen ist von solchen Dingen.

König: Denn immer wieder morgens um neun sich an den Arbeitstisch zu setzten und diesen ekelhaften Mist zu lesen, stell ich mir schon auch immer mal wieder schrecklich vor.

Longerich: Da haben Sie vielleicht Recht.
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