Retter gesucht

Personalmangel bei Notfallsanitätern

08:14 Minuten
Ein Krankenwagen im Einsatz
Die Einsätze des Rettungsdienstes haben zugenommen, auch weil diese oft bei weniger schweren Fällen gerufen werden. © dpa / Arno Burgi
Von Stephan Beuting |
Audio herunterladen
Weil wir einen gut funktionierenden Rettungsdienst zu lange für selbstverständlich gehalten haben, ist dieser nun selbst zum Notfall geworden und muss schnell stabilisiert werden. Fehlendes Personal wird bisher durch Überstunden ausgeglichen.
Eine junge Frau liegt am Boden, das Gesicht schmerzverzerrt. Offenbar ist sie aus größerer Höhe gestürzt. Notfallsanitäterin Friederike kniet sich seitlich neben sie, checkt, wie bedrohlich der Fall ist.
Ihr Kollege Kevin hat die Hände am Nacken der Frau, um den Kopf zu stabilisieren: "Haben Sie Schmerzen am Becken?" – "Ja! Die ganze Seite." – "Okay, ich gehe nicht weiter ans Becken."
Als nächstes bekommt die Frau eine Halskrause, die Beine werden fixiert. "Und dann geben wir Ihnen etwas gegen die Schmerzen."
Die Szene ist natürlich gestellt. Aber der Sog, den sie ausübt, der ist echt. Der wirkt sichtbar auf die anderen angehenden Notfallsanitäterinnen und -sanitäter, die drum herum auf ihren Stühlen sitzen – und auf mich sowieso. Etwas abgeklärter ist Rettungskräfte-Ausbilder Paul Slagman, der am Rand steht, sich Notizen macht und mir erklärt, was da gerade passiert.
"Erst einmal haben die das Becken stabilisiert, weil: Wenn das Becken aufklappt, bei einer Fraktur, dann ist das ein großer Blutungsraum. Und jetzt möchten die einen Zugang legen in die Vene, damit die Medikamente gegeben werden können gegen Schmerzen."

Notfallsanitäter helfen, wenn ein Notarzt nicht schnell da ist

Ein Patient hat Schmerzen, der Notarzt ist noch nicht da oder nicht kurzfristig verfügbar. Genau das ist so ein Fall für den Notfallsanitäter. Während früher Rettungssanitäter und Rettungsassistent unter bestimmten Umständen nur wenige invasive Maßnahmen und Medikamentengaben durchführen durften, soll der Notfallsanitäter selbständiger vorgehen, soll die Lücke zu dem, was der Notarzt darf etwas verkleinern. Seit 2014, also seit sechs Jahren, gibt es diesen neuen Beruf des Notfallsanitäters, nur leider gibt es noch nicht genug davon.
"Es ist ja fast ein reines Wunschkonzert geworden, für den Arbeitnehmer, zu welchem Arbeitgeber gehe ich jetzt als nächstes."
Weil jedes Bundesland seine Rettungsdienste eigenständig organisiert, weil die einzelnen Träger von den Kommunen finanziert werden. Daher weiß niemand so ganz genau, wie große die Lücke tatsächlich ist. Jeder macht seins. Marco König ist da noch einer mit etwas mehr Überblick. Als Vorsitzender des Deutschen Berufsverbandes Rettungsdienst bekommt er von seinen Mitgliedern Rückmeldungen.
"Wir wissen nur, dass die Stellenanzeigen immer mehr werden – und dass mit immer mehr Vorteilen die Mitarbeiter gelockt werden. Weil: Man steht im Wettbewerb zu anderen Leistungserbringern. Das ist einerseits gut für Notfallsanitäter, auf der anderen Seite ist es auch wieder belastend, weil: Womöglich arbeite ich in einem Betrieb, wo zwei, drei, vier Stellen nicht besetzt sind."

Zahlreiche Überstunden und Stress

Besonders in NRW ist die Lage prekär. Weil die Kassen sich hier mit den Leistungsträgern nicht über eine Finanzierung einigen konnten, gingen Jahre ins Land, in denen nicht ausgebildet wurde. Kai Vogelmann, Sprecher des Malteser-Hilfsdiensts:
"Die Lücke, die wir hatten durch das Nicht-Ausbilden im – ich glaube – Zeitraum von drei Jahren, das ist ein riesen Gap, das wir erstmal wieder schließen müssen."
Was diese Lücke im Alltag bedeutet, das hat auch Friederike in ihrer Ausbildung schon erlebt.
"Ja, ein bisschen stressig: kurzfristige Krankmeldung. Ganz klassisch. Das passiert. Ein Tag vorher, eine Stunde vorher. Das ist einfach so. Und dann ist das beeindruckend, wie das geregelt wird. Da müssen dann Leute gefunden werden, die dann einspringen."
Problematisch, wenn sich das kurzfristige Einspringen häuft, der Mangel zur Regel wird.
"Man hat eine sehr hohe Tendenz, auch wenn es einem nicht gut geht und man vielleicht nicht in einen Einsatzdienst gehen sollte, dann doch sagt: Okay, ich gehe doch, sonst muss der wieder ran, und der hat ja auch schon 400 Überstunden. Das ist jetzt nicht aus der Luft gegriffen: Ich kenne Kollegen, die eher noch doppelt so viel an Überstunden haben. Das geht schon an die Nieren."
Große Verantwortung, hohe Anspannung, knappe Personaldecke. Ein Zustand, ähnlich wie in anderen Berufen im Gesundheitswesen. Mit den bekannten Folgen, "dass halt Kollegen, das passiert regelmäßig, leider auch Langzeit ausfallen".

Vom Personalengpass merken die Bürger selten etwas

Was dann wiederum die Lage in den Einsatzstellen verschärft. Nur, weil jemand in so einer Rettungsjacke aus einem Rettungsfahrzeug aussteigt, heißt das noch lange nicht, dass der automatisch ausgeruht und top-fit ist.
"Dass aber Kollegen zwölf Dienste im kurzen Wechsel haben, das heißt: 24 Stunden Dienst, 24 Stunden frei, 24 Stunden Dienst… Und dann kommt man, natürlich nie offiziell, aber man kommt schon so an die 72 oder mehr Stunden die Woche."
Von den Personalengpässen merke man als Bürger erstmal nix, sagen sie. Vielleicht komme der Rettungswagen ein wenig später. Die Retter sind dann vielleicht eher unter der professionellen Oberfläche angeschlagen. Gerade wenn sie, wie Friederike, Pauline und Kevin, in einer Einsatzstelle sind, in der keine Nacht wirklich ruhig ist.
"Wenn man dann nachts um vier, wie wir jetzt in Essen, zum 15. Mal herausgefahren ist, dann ist einfach die Kraft nicht mehr so da, sich so reinzuhängen. Natürlich macht man das dem Patienten zuliebe. Wir geben unser Bestes, aber das ist nicht immer möglich."

Immer öfter wird der Notarzt gerufen

Dazu kommt, dass in vielen Städten die Zahl der Einsätze zugenommen hat.
"Es sind auch nicht immer Notfälle. Gerade nachts machen sich die Menschen Sorgen, wissen nicht immer, was los ist. Letztendlich ist dann eine Erkältung. Aber das kann man dem Patienten nicht übel nehmen. Weil, wer hilflos ist, der bekommt unsere Hilfe, der hat unsere Hilfe verdient."
"Aber sagen wir mal, wieviel Prozent von den Fällen, wo du rausfährst, sind eher der Erkältungsgruppe zuzurechnen? Und wie viel solchen Einsätzen, bei denen man wirklich die ganze Besatzung und die ganze Kompetenz braucht?"
"Also, wenn ich ganz ehrlich bin, hat man, wenn man Glück hat, einen Patienten am Tag, der den Rettungswagen gebraucht hat." – "Und wie viele, die den nicht bräuchten?" – "Neun."

Jetzt werden Notfallsanitäter ausgebildet

"So, ich werde jetzt den Patienten drehen. Wäre super lieb, wenn sie das jetzt hier drunter schieben könnten."
Friederike und Kevin haben Pauline, also die Verletzte, gerade in eine spezielle Decke gelegt, aus der jetzt die Luft rausgesaugt wird, um sie zu stabilisieren. Nun wird sie vorsichtig auf die Schaufeltrage gelegt.
"Die machen das sehr gut", erklärt Paul Slagman. "Es sind so zwei, drei Kleinigkeiten, die mir jetzt aufgefallen sind, die wir gleich nochmal nachbesprechen. Aber vom Gesamtablauf: Die arbeiten sehr ruhig, sehr zielorientiert und arbeiten von der Struktur sehr gut."
Erst wollten Krankenkassen sich nicht an der Ausbildung der Notfallsanitäter beteiligen, dann gab es die Vorgabe: Bildet nicht über Bedarf aus. Dass diese Rechnung nicht aufgegangen ist, dass sei glücklicherweise mittlerweile zu Krankenkassen und Politik durchgedrungen, sagt Kai Vogelmann.
"Jetzt wird angefangen auszubilden, aber es hat sich halt ein Flaschenhals gebildet im Bereich der Notfallsanitäter, den wir jetzt erst wieder öffnen müssen. Und bis es soweit ist, vergeht jetzt halt Zeit, und die müssen die bestehenden Kolleginnen und Kollegen jetzt überbrücken."
Hohe Belastung im Job und manchmal auch Gewalt gegen Rettungskräfte: Die Auszubildenden schreckt das offenbar nicht sonderlich.
"Das war uns allen bewusst, dass das hier kein Ponyhof ist."
Und vielleicht ist das Teil der Einstellung der Notfallsanitäter, dass es auch Herausforderungen gibt, bei denen sie es nicht in der Hand haben.
"Wer das erste Mal in seinem Leben, nassgeschwitzt vor einer schwangeren Frau steht, weil kein Notarzt gerade da ist und so eine Geburt durchmacht und am Ende dieses Kind im Arm hat: Das sind halt Momente", erinnert sich Paul Slagman. "Ich meine, er hieß Maximilian." – "Maximilian-Paul hätte man ja wenigstens mal machen können." Paul lacht.
Mehr zum Thema