Resozialisierung

Knast hat noch keinem geholfen, oder doch?

28:48 Minuten
Ein Häftling baut in der Schreinerei der Justizvollzugsanstalt in Ulm (Baden-Württemberg) einen Schrank zusammen, während im Vordergrund mehrere Werkzeuge auf einer Decke liegen, auf der "Justiz" steht.
Ein Häftling baut in der Schreinerei in einer Justizvollzugsanstalt in Baden-Württemberg einen Schrank zusammen. © dpa/ Felix Kästle
Von Annette Wilmes · 24.08.2020
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Straffällig gewordene Menschen sollen hinter Gefängnismauern ihre Strafe absitzen, mit Hilfe von Arbeit und Ausbildungsprogrammen gleichzeitig aber auch resozialisiert werden. Kann dieses Konzept überhaupt erfolgreich sein?
"Resozialisierung ist das, was in allen Vollzugsgesetzen als das Ziel des Vollzuges formuliert ist. Das ist die Befähigung, dass ein Gefangener nach seiner Entlassung in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten führt. Das ist der Auftrag. So soll der Vollzug ausgerichtet sein", sagt die Juristin Susanne Gerlach.
Nicht mehr Schuld und Sühne, sondern Resozialisierung wurde als Ziel des Strafvollzugs festgelegt, als 1977 das Strafvollzugsgesetz in Kraft trat. Das änderte sich auch nicht, als nach der Föderalismusreform von 2006 die Regelungskompetenz den einzelnen Bundesländern übertragen wurde. Mittlerweile gibt es 16 verschiedene Strafvollzugsgesetze, aber der Behandlungsauftrag ist allen gemeinsam: "Der Vollzug dient dem Ziel, die Gefangenen zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen."
"Die Leitidee sagt, dass wir differenzierte Behandlungsmaßnahmen anbieten, und ich glaube, die Betonung sollte auf anbieten liegen. Resozialisierung ist nichts, wo man Menschen sozusagen zum Objekt staatlichen Handelns macht, ihnen sagt, was zu tun ist, und sie tun es dann auch. Sondern das Wichtigste ist, dass man ihnen sagt, was nach unserer fachlichen Einschätzung für sie hilfreich sein könnte und dass man vor allem versucht, die Motivation zur Mitarbeit zu wecken und dann auch zu fördern", erläutert Martin Riemer, Leiter der JVA Tegel.


Die Geschichte des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1985 hat die Historikerin Annelie Ramsbrock untersucht. Die Ergebnisse wurden in ihrem kürzlich erschienenen Buch veröffentlicht: "Geschlossene Gesellschaft – Das Gefängnis als Sozialversuch – eine bundesdeutsche Geschichte".
"Es gibt tatsächlich kaum etwas zur Geschichte des Strafvollzugs nach 45, in jedem Fall auf die Bundesrepublik bezogen. Auf die Geschichte der DDR gibt es sehr viel. Insofern könnte man daraus den Schluss ziehen, dass Strafvollzug für Historiker dann interessant ist, wenn es sich um repressive Regime handelt. Ich fand es nun aber gerade spannend, mich mit Strafvollzug als einem repressiven Moment in einer Demokratie zu beschäftigen. Deswegen fand ich die Bundesrepublik als Beispiel besonders attraktiv. Und dazu gab es tatsächlich nicht viel, nein."

Grundsätze für die Behandlung von Gefangenen

Annelie Ramsbrok beschreibt in ihrem Buch, wie seit Kriegsende – auch auf internationaler Ebene – die Resozialisierung zum Ziel der Freiheitsstrafe erhoben wurde. Die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen wurden 1955 in Genf erarbeitet, die seit 2015 "Nelson-Mandela-Regeln" heißen. In den 60er-Jahren bestimmte der Resozialisierungsgedanke die westdeutschen Debatten. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip zu den unveräußerlichen Menschenrechten zählen. Dies alles mündete im Strafvollzugsgesetz. Ein Meilenstein auf dem Weg dorthin war die große Strafrechtsreform von 1969.
"Es gab schon eine Idee, die Freiheitsstrafe zu verändern, nicht nur, sie zu liberalisieren, sondern tatsächlich im Rahmen der großen Strafrechtsreform sie erst mal zu vereinheitlichen. Zuchthaus, Arbeitshaus wurde abgeschafft, und dann eben auch, und das ist schon ein großer Einschnitt, die kurzen Freiheitsstrafen abzuschaffen, sprich: die Bewährung viel, viel stärker zu machen. Die nicht heißt, dass keine Freiheitsstrafe stattfindet, aber dass die Freiheitsstrafe ausgesetzt ist und die Menschen faktisch nicht ins Gefängnis gehen", sagt Annelie Ramsbrok.

Aber auch in den 60er-Jahren war das Leben hinter den Gefängnismauern noch unmenschlich. So wurde in der Kölner Haftanstalt "Klingelpütz" ein Gefangener zu Tode gefoltert, ein anderer in den Selbstmord getrieben, viele wurden misshandelt. Solche Zustände sollten – mithilfe des Strafvollzugsgesetzes – endgültig beendet werden.
Mauer mit Wachtürmen der Justizvollzugsanstalt in Köln-Ossendorf.
Die Justizvollzugsanstalt in Köln-Ossendorf wurde Ende der 60er-Jahre in Betrieb genommen.© picture alliance/dpa/Horst Ossinger
Die Historikerin Annelie Ramsbrock beschreibt in ihrem Buch das Gefängnis als Ort der Resozialisierung in den 60er- und 70er-Jahren. Sie schreibt über Gefangenenarbeit und Freizeit, über Sozialtherapie und Kastration, über Subkulturen und Sexualität und schließlich über die "Krise der Gefängnisreform". Ihre Bestandsaufnahme endet 1985. Ihr Fazit:
"Ich komme in meinem Buch tatsächlich zu einem sehr nüchternen und vielleicht auch ernüchternden Schluss, indem ich sage, und das habe ich bewusst sehr provozierend formuliert, dass Resozialisierung nie versucht worden ist. Dass die grundsätzliche Idee des Resozialisierungsparadigmas, nämlich ein Höchstmaß an Freiheit zu ermöglichen und das Leben hinter Gittern dem außerhalb der Gitter anzupassen, tatsächlich nie umgesetzt worden ist."

Sicherheit statt Freiheit

Wenn es um die Frage "Freiheit oder Sicherheit" ging, habe man sich grundsätzlich für die Prämisse Sicherheit entschieden, erklärt Ramsbrock. Die These der Historikerin Ramsbrock ruft Widerspruch hervor. Die Juristin Susanne Gerlach arbeitet seit 2006 in der Berliner Senatsverwaltung für Justiz in der Abteilung, die unter anderem mit der Aufsicht der Strafvollzugseinrichtungen befasst ist. Seit 2016 leitet die frühere Strafrichterin diese Abteilung. Der Behandlungsvollzug habe einiges zum Positiven verändert, davon ist sie überzeugt.
"Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind anders ausgebildet, verwenden andere Methoden bei ihrer Arbeit. Wir haben auch eine stärkere Verzahnung zum Bereich Wissenschaft, kriminologische Forschung. Fast alle Länder haben mittlerweile kriminologische Dienste geschaffen. Es gibt das Bestreben, sich zu fragen: Welche Maßnahmen sind sinnvoll? Wo kommt was bei raus? Wie verbessern wir Prognosen tatsächlich?"
Wie Susanne Gerlach aus der Justizverwaltung meint auch Kirstin Drenkhahn, Professorin für Kriminologie an der Freien Universität Berlin, dass die Entwicklungen im Strafvollzug viel Zeit brauchen.
"Ich würde sagen: Wenn wir das nicht gemacht hätten, dann wären die Zustände jetzt einfach viel, viel schlechter, auch insgesamt. Ich glaube nicht, dass der Behandlungsvollzug vollständig gescheitert ist, weil mit diesen Ideen auch mehr Ideen aus der Forschung aufgenommen wurden. Es gibt einen ganz guten Austausch in Deutschland zwischen Wissenschaft und Praxis im Bereich des Strafvollzugs, der mühselig ist für beide Seiten. Aber zumindest gibt es den."

Das eine ist das Gesetz, das andere ist das Knastleben

Die Reform sei auch deshalb so schwierig gewesen, weil Theorie und Praxis – sprich das Gesetz und das Leben im Knast – sehr weit auseinanderlagen. Daran habe sich nur allmählich etwas geändert, und dieser Prozess sei immer noch im Gange. Kirstin Drenkhahn:
"Man muss ja sich vielleicht noch mal klar machen, dass auch der Behandlungsgedanke und das Bundesstrafvollzugsgesetz von 1977, dass das eigentlich was damit zu tun hat, dass die Grundrechte auch im Strafvollzug direkt wirken sollten und eben Strafgefangene auch als Bürgerinnen und Bürger mit Grundrechten behandelt werden sollten."
Dafür sei ein grundsätzliches Umdenken nötig gewesen, was vor allem denen, die damals im Strafvollzug arbeiteten, schwergefallen sei.
"Das würde besser klappen, wenn man praktisch das Ganze umgedreht hätte. Wir haben so die Situation gehabt, dass wir auf eine Jahrhunderte alte Strafe die Menschenrechte drauf gepfropft haben und jeder aber immer gesagt hat: Oh, jetzt müssen wir erst mal überlegen, ob Sicherheit und Ordnung das überhaupt zulassen, dass dieses Menschenrecht hier gilt. Wenn man aber gesagt hätte: Die Leute sind da jetzt. Die haben Menschenrechte, und dann dürfen wir nur die Einschränkungen vornehmen, die unbedingt nötig sind, um das Ziel der Freiheitsstrafe, das wir noch mal näher definieren müssten, zu erreichen. Dann wäre es wahrscheinlich einfacher, auch einen, ja, Vollzug zu machen, der besser ans normale Leben angeglichen ist."

Die Quadratur des Kreises

Hierbei bezieht sich Kirstin Drenkhahn auf den Angleichungsgrundsatz im Gesetz: "Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden." Das scheint hinter dicken Mauern und schweren Gittern schlecht oder gar nicht möglich zu sein. Susanne Gerlach aus der Justizverwaltung:
"Ja, das ist eigentlich die Quadratur des Kreises, nicht? Das ist so ähnlich wie das Vorbereiten auf ein Leben in Freiheit und das in Unfreiheit. Das sind Dinge, die sind nicht einfach, gerade im geschlossenen Vollzug. Wenn wir den ins Auge fassen, sind ja die Unterschiede zu einem Leben in Freiheit wirklich manifest und deutlich. Es geht vor allen Dingen darum, es abzumildern und zu schauen, welche Dinge kann man tun, damit die Menschen gewisse Individualitäten und Freiheiten und Spielräume behalten. Solche Kleinigkeiten, wie zum Beispiel das Tragen von Privatkleidung, ist in Berlin fast die Regel.
Das ist nicht überall so. Wie können wir Besuche und Außenkontakte intensivieren, nicht abbrechen lassen? Oder auch eben ein Vorhaben, auf das ich tatsächlich hier auch für Berlin sehr stolz bin: Das ist das Projekt Resozialisierung durch Digitalisierung. Wir schließen zurzeit Inhaftierte im geschlossenen Vollzug komplett von dem aus, was für uns alle im Alltag zentral ist: Internet, moderne Medien, Digitalisierung. Dafür gibt es Gründe, dass wir da ängstlich sind als Vollzug. Aber wir könnten mehr. Und das versuchen wir gerade, denn das ist auch ein Ausdruck von Teilhabe: Information. Aber es ist ein Spannungsverhältnis, das aufzulösen, sehr, sehr kompliziert ist."

Die Justizvollzugsanstalt Tegel im Norden Berlins ist der größte Männerknast Deutschlands. Wegen der Coronapandemie sind hier zurzeit weniger als 700 Gefangene untergebracht. Zu anderen Zeiten waren es doppelt so viele und mehr. Auf dem weiten Gelände stehen zahlreiche Gebäude, die zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert stammen. Zentral gelegen ist die Kirche.
Gittertüren und Gänge in einem Gefängnis
Die Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel: Zahlreiche Gebäude auf dem Gelände stammen zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert.© picture-alliance/Tagesspiegel/Thilo Rückeis
Zwei der drei alten Zellenbauten stehen noch, einer wurde 2018 abgerissen. Die Unterbringung in 5,3 qm großen Hafträumen ohne abgetrennte Toilette verstoße gegen die Menschenwürde, hatte der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin festgestellt. Die alten Häuser wurden im pennsylvanischen Stil gebaut, nämlich in einem Stern mit offenen Treppenhäusern, sodass man von der Zentrale aus alle Flure überblicken kann. Und überall auf dem Anstaltsgelände Zäune, Tore, Schlösser.
Rafael Galejew, Beauftragter für Öffentlichkeitsarbeit in der JVA Tegel, schließt die Türen auf, die in die Teilanstalt III führen, das ehemalige Zuchthaus. Das Gebäude steht leer, es sollte eigentlich Ende 2019 von Grund auf renoviert werden. Die Sanierung wurde aber von der Bauverwaltung um zwei Jahre verschoben.
Die 6,7 qm kleinen Zellen mit Toilette im Haftraum bieten einen trostlosen Anblick. In den langen Zellenfluren fallen die Maschendrahtgitter auf, die in den offenen Treppenhäusern aufgespannt sind. Sie sollen verhindern, dass sich suizidgefährdete Gefangene von den schmalen Zellenfluren in die Tiefe stürzen, oder dass jemand heruntergestoßen werden kann. Weiter geht es zur Teilanstalt II, die noch belegt ist.

Leben zwischen Staub und Dreck

Hier sind auch die Redaktionsräume der Gefangenenzeitung "der lichtblick" untergebracht. Verantwortlicher Redakteur ist Elias Romaniuk. Eine menschenwürdige Unterbringung sei in diesem alten Gemäuer nicht möglich, klagt er:
"Die Bausubstanz ist auch entsprechend schlecht. Die Gesamtsituation in Haus II ist sehr schlecht. Die baulichen Gegebenheiten sind sehr schlecht, die Belastung mit Staub, mit Dreck, mit allem, also die Hygiene… Die Gesamtbelastung ist sehr hoch hier."
Die Gefangenen in diesem Haus sind wie überall in Tegel in Einzelzellen untergebracht.
"In Einzelzellen, ja. Aber mit Toilette und allem Drum und Dran. Sie essen praktisch und gucken auf ihre Toilette. Sie können sich einen Vorhang vorziehen, aber das ist alles. Ja, mehr ist das nicht."
Mehrmals am Tag gibt es Aufschlusszeiten, in denen die Gefangenen sich auf der Station aufhalten können.
"Die Gänge sind auch schmal. Es handelt sich um ein Meter breite Gänge. Das heißt, Sie können wie ein Tiger im Zoo auf dem Gang immer hin und her laufen, so müssen Sie sich das vorstellen. Es sind keine großen Freiflächen, wo man sich aufhalten kann, es sind schmale Gänge, und das war's."
Eine lange Mauer mit Stacheldraht und Wachtürmen.
JVA Tegel in Berlin: „Die Bausubstanz ist auch entsprechend schlecht. Die Gesamtsituation in Haus II ist sehr schlecht."© imago images/Jürgen Ritter
Immerhin gibt es auch in der JVA Tegel inzwischen zwei neue Häuser, in denen die Hafträume größer und die sogenannten Nasszellen abgetrennt sind. Hier gibt es auch Gemeinschaftsräume. Elias Romaniuk ist froh, dass er den Job beim "lichtblick" hat, bei der einzigen unzensierten Gefangenenzeitschrift in Deutschland, die seit 1968 existiert. Zum 50-jährigen Jubiläum hat die Zeitschrift eine DVD mit allen erschienenen Ausgaben erstellt, eine wahre Fundgrube für alle, die sich für das Leben hinter Gittern interessieren.
"Ja, das ist ein sehr guter Job, finde ich, macht auch sehr viel Spaß und er hilft mir auch, hier das alles auszuhalten. Ich kann auch Artikel schreiben, kann auch kritische Artikel schreiben, da werde ich nicht kontrolliert und auch nicht irgendwie geleitet. Ich bin da frei."
Vier Jahre hat Elias Romaniuk noch vor sich. Er hofft, wieder in den offenen Vollzug zu kommen, wo er schon einmal war und dessen Vorzüge er kennt. Von dort sei auch der Start in die Freiheit und in ein straffreies Leben erheblich leichter. Tatsächlich gibt es in einigen Bundesländern das Bestreben, möglichst viele Gefangene in den offenen Vollzug zu bringen. Das sei vor allem in Hinsicht auf die Haftentlassung wichtig, erklärt Susanne Gerlach aus der Berliner Justizverwaltung.
"Ein großer Teil der Gefangenen im offenen Vollzug arbeitet regulär draußen, bekommen übrigens dann natürlich auch richtiges Geld draußen. Das wird allerdings durch die Anstalt verwaltet. Sie können Unterhalt bezahlen, haben im Idealfall eine Wohnung. Wir entlassen sie. Sie haben zu diesem Zeitpunkt ein festes Arbeitsverhältnis, eine eigene Wohnung und eine durch die Begleitung durch die Sozialarbeiter erprobte Beziehung zu ihrer Familie, zu Kindern, haben gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Wenn uns das gelingt, dann haben wir einen sehr, sehr guten Job gemacht."

Jugendvollzug mit Erziehungsauftrag

Resozialisierung spielt vor allem im Jugendvollzug eine große Rolle. Hier kommt der Erziehungsauftrag dazu, erläutert Bill Borchert, Leiter der Berliner Jugendstrafanstalt in Plötzensee. In der Wissenschaft werde auch von "nachholender Erziehung" gesprochen:
"Da gehts einfach um Basics, überhaupt mal den jungen Männern beizubringen, morgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen, regelmäßig zur Arbeit zu gehen, mit Rückschlägen umzugehen. Und wenn man mal Menschen am Tag getroffen hat, die nicht nur nett zu einem waren, nicht zu sagen: Nee, da geh ich morgen nicht mehr hin, überhaupt mal so diesen Tag zu lernen, den Haftraum aufzuräumen, seine Wäsche zu waschen… Da denken wir immer, das muss doch eigentlich klar sein. Das ist es aber nicht, ja?"
Besonders ernst wird die Hilfestellung bei der Haftentlassung der Jugendlichen genommen.
"Wir haben hier vor knapp sieben, acht Jahren ein sogenanntes Beratungszentrum eröffnet. In diesem Beratungszentrum, das liegt hier in der Anstalt, da ist in einem Unterkunftshaus sozusagen eine Etage reserviert, da treffen sich freie Träger, Bewährungshelfer. Wir haben an drei Tagen die Woche das Jobcenter hier mit einer sehr engagierten Mitarbeiterin, die seit Jahren hier schon vom Jobcenter reinkommt, die sozusagen von hier schon die Arbeitsplatz- oder Ausbildungsvermittlung vorantreibt."
Trotz alledem – die Rückfallquoten gerade bei Jugendlichen sind besonders hoch. Also stimmt die weitverbreitete Vorstellung, der "Knast hat noch keinem geholfen"? Bill Borchert widerspricht:
"Warum werden Jugendliche rückfällig? Das kann man ganz kurz beantworten, weil ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Und das vergessen ganz viele gerade im Jugendbereich. Wir haben einen jungen Mann, den kenn ich, seitdem ich hier in Haft bin. Der hat seinen Schulabschluss hier nachgeholt und war auf einem guten Weg, der war dann auch gelockert und ist dann eben noch mal straffällig geworden. Wieder in einem ähnlichen Bereich. Könnte man jetzt sagen: Hat nichts gebracht. Das würde ich so nicht sagen. Das betrachte ich als Langzeitwirkung, dieser Schulabschluss, der hat ihm was gebracht und wird ihm was bringen. Und dann hat er es jetzt eben noch nicht geschafft, und wir werden uns angucken, woran es gelegen hat, und werden weiterarbeiten. Der macht jetzt eine Ausbildung in der Tischlerei. Und das geben wir ihm hier mit."

Ein Thema, das polarisiert

Wenn in der Öffentlichkeit über den Strafvollzug geredet wird, gehen die Meinungen weit auseinander. "Menschenunwürdige Bedingungen, Gefängnisse abschaffen", sagen die einen. "Die Verbrecher haben es viel zu gut, diesen Hotelvollzug haben sie nicht verdient", sagen die anderen. Es ist nicht leicht für die im Vollzug Arbeitenden gegen solches Schwarz-Weißdenken anzugehen und aufzuklären. Martin Riemer, seit 2013 Leiter der JVA Tegel:
"Das ist ein Thema, mit dem wir uns fortlaufend zu beschäftigen haben. Das wird natürlich von verschiedenen Seiten an uns rangetragen und wie so häufig ähneln sich die Extreme. Und teilweise entstehen aus diesen unterschiedlichen Haltungen ähnliche Forderungen und ähnliche Probleme. Nämlich zum Beispiel, wenn es darum geht, soll in die Baulichkeiten einer Justizvollzugsanstalt investiert werden, dann gibt es die, die sagen, warum sollten wir für Gefangene Geld ausgeben, damit die es besser haben?
Und umgekehrt dürfte es auch gerade im Bereich derjenigen politischen Richtungen, die eher auf eine Abschaffung des Strafvollzuges ausgerichtet sind, die Haltung, wenn wir da jetzt noch Geld reinstecken, dann perpetuieren wir das System nur anstatt es eigentlich abzuschaffen. Insofern sind da beide Facetten dieser sehr unterschiedlichen Haltung für uns teilweise mit identischen Folgen verbunden."
Verbesserungen im Strafvollzug und die Durchsetzung des Resozialisierungsziels brauchten Zeit, meint auch Martin Riemer.
"Wir sind hier nicht beim Finanzamt, wo die Einkommensteuer verändert wird ab 1. Januar eines bestimmten Jahres und tatsächlich gilt das dann auch ab sofort und alle müssen die höhere oder auch niedrigere Steuer dann auch bezahlen. Sondern ein Gesetz bedeutet im Wesentlichen für den Justizvollzug, dass sozusagen ein bestimmtes Programm, eine bestimmte Haltung auch vorgegeben wird. Die brauchen Zeit, um Baulichkeiten zu verändern, auch ein großes Thema immer wieder im Justizvollzug. Wie kann man die Freiheitsstrafe des Jahres 2020 in Gebäuden der Kaiserzeit oder der Weimarer Republik vollziehen? Und Justizvollzug ist in seiner konkreten Ausprägung natürlich auch immer ein Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen draußen. Und insofern sehr gebunden."

Gefangenen eigene Rechte einräumen

Ein ausgewiesener Experte und Beobachter des Strafvollzugs seit Jahrzehnten ist der Anwalt für Strafsachen Olaf Heischel. Seit 1999 ist er Vorsitzender des Berliner Vollzugsbeirats, ein Gremium, das zur Verbesserung des Strafvollzugs beitragen und in der Öffentlichkeit für dessen Belange werben soll. Das Strafvollzugsgesetz, das die Resozialisierung als Vollzugsziel festlegt und den Gefangenen eigene Rechte einräumt, habe eine positive Wirkung gehabt, sagte Olaf Heischel am Telefon:
"Nämlich dass die Bestrafung und die Inhaftierung von Menschen, die sich gegen das Gesetz verhalten haben, dass die nicht eine Qual sein soll, sondern dass sie dazu dienen soll, etwas wieder gutzumachen."
Mit der Aussage der Historikerin Annelie Ramsbrock konfrontiert, Resozialisierung sei nie versucht worden, antwortet Heischel:
"Aus meiner Berliner Warte kann ich diese Aussage nicht nachvollziehen. Versucht wird in Berlin, glaube ich, sehr viel, sehr ernsthaft und auch mit vielen Überlegungen und teilweise auch Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Und was vor allen Dingen in Berlin an Gutem passiert, das ist, dass seit, ich glaube, seit mittlerweile zwei Jahrzehnten ziemlich weit gefächert Resozialisierungsarbeit an externe Träger übertragen wird. Die vom Staat finanziert werden, aber die von außen reinkommen und ich glaube, schon allein dadurch wirkungsvoller sind als jemand, der direkt zur Institution gehört."

Massenentlassungen nach dem Mauerfall

Einer dieser externen Träger ist der Verein "Freie Hilfe", der zur Wendezeit 1990 in den Ostberliner Bezirken gegründet wurde.
"Man hatte sich eigentlich nur zum Ziel gestellt, die Inhaftierten, die Haftentlassenen durch die Zeit der Wende zu bringen. Für Haftentlassene hat sich ja damals niemand interessiert."
Frank Geppert war von Anfang an dabei. Schon zu DDR-Zeiten hatte er sich um Inhaftierte gekümmert.
"Was früher ja staatlich organisiert war, dass alle nach der Entlassung wieder einen Job hatten und och 'ne Wohnung oder 'ne Unterkunft, die auch immer gefunden hatten."
Zur Wendezeit gab es Massenentlassungen, die Ex-Gefangenen standen auf der Straße, ohne Arbeit und ohne Unterkunft. Geppert und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter kümmerten sich auch um die Menschen, die aus den geschlossenen DDR-Knästen in West-Anstalten verlegt wurden, zum Beispiel nach Tegel.
"Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass die alle Angst hatten, ah, wir kommen da in so'n Westknast, die haben alle Drogen. Die Leute hatten Angst vor Drogen. Und heute wollen sie welche haben. Damals hatten sie Angst."
Ein Mann steht in einem Gefängnis.
Seit mehr als 30 Jahren hilft Sozialarbeiter Frank Geppert Gefangenen bei der Resozialisierung. © picture alliance/dpa/rolf kremming
Auch 30 Jahre nach der Wende ist die "Freie Hilfe" aktiv. Sie berät in allen möglichen Bereichen, in den Haftanstalten, aber auch ehemalige Gefangene nach der Entlassung. Auch die Familien bekommen Hilfe.
"Ja, sie suchen 'ne Wohnung, sie suchen Arbeit, wie gehe ich mit meinem Kind um, mit der Trennung, mit der Partnerschaft, wie kommt meine Frau klar. Ich bin in Haft, wie regelt die jetzt das Leben, die Sozialhilfe, Schulden, ne ganz große Problematik, Suchtproblematik ohne Ende. Da haben wir ganz viele Partner. Es gibt professionelle Schuldnerberatung, Suchtberatung, und und und…"
Die "Freie Hilfe" bildet auch Vollzugshelferinnen und Vollzugshelfer aus. Das ist eine ganz besondere Form der Unterstützung von Gefangenen.
"Vollzugshelfer sind ja ehrenamtliche Bürger, die praktisch nicht den Fachteil der Sozialarbeiter und Sozialpädagogen ersetzen, sondern die eigentlich die Brücke für Menschen von draußen nach drinnen bilden. Vorzugsweise natürlich auch für die Gefangenen, die keine Sozialkontakte mehr nach draußen haben."
So eine Ausbildung hat auch der Schauspieler Steffen Schroeder gemacht. "Das Thema Knast hat mich immer interessiert, seit ich als junger Schauspieler ein paar Tage in einem Knast gedreht habe, in einem stillgelegten Trakt, aber der Rest war eben noch voll in Betrieb. Und das hat mich immer sehr beeindruckt."

Mit einem Mörder über Ängste und Sorgen sprechen

Steffen Schroeder war bereits in der Opferhilfe engagiert, als Botschafter für den Weißen Ring, als er begann, sich ebenfalls für die Täterseite zu interessieren. Er begriff, dass auch diesen Menschen geholfen werden kann.
"Na ja, dass man zum Beispiel einfach reden kann über Ängste, über Sorgen und über Gefühle. Es ist ja doch in so einem Männerknast, kann man sich vorstellen, eine sehr harte, raue, männliche, testosterongesteuerte Energie. Das ist wirklich ein hartes Pflaster. Und einfach zum Beispiel offen reden zu können, über Ängste, über Trauer, solche Dinge, seine eigene Schwäche zeigen zu dürfen."
Schroeder hat in Tegel einen Mann besucht, der wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
"Der kam jetzt auch noch ursprünglich aus der rechtsextremen Szene, von der er sich abgewendet hatte, aber ich dachte: Ich werde mir mit dem gar nichts zu sagen haben und war dann ganz erstaunt, dass man trotzdem irgendwie Parallelen findet und eben auch eine menschliche Seite in dem anderen entdeckt und eigentlich ziemlich schnell ein ganz angenehmes Gespräch führen konnte."
Über diese Erfahrungen hat Steffen Schroeder ein Buch geschrieben: "Was alles in einem Menschen sein kann".

Theater im Gefängnis

Die Mauern zum geschlossenen Vollzug sind durchlässiger geworden. Früher sollten sie nicht nur die Gefangenen daran hindern, zu entweichen, sie sollten auch den Blick nach innen verwehren. Heute können sich Journalisten innerhalb der Anstalt umsehen und Interviews führen. Kulturelle Projekte können ihre Aktivitäten im Knast entfalten. Eines der Ersten dieser Art ist das Gefängnistheater aufBruch.
"Es gab einen Verein ´Kunst und Knast`. Die haben sich sehr darum bemüht, dass sich die Gefängnisse öffnen und dass für die Gefangenen in den Anstalten Angebote geschaffen werden. Wir haben dann einen runden Tisch gebildet. Und das wurde richtig ausgehandelt, tatsächlich an einem runden Tisch, weil es ein Pilotprojekt war. Es gab das in dieser Art noch nicht."
Sibylle Arndt vom Gefängnistheater aufBruch erinnert daran, wie schwierig es damals war, die Verantwortlichen in der Senatsverwaltung und in den Vollzugsanstalten von ihrem Vorhaben zu überzeugen, Theater im Knast zu machen, mit Gefangenen als Schauspielern, mit Zuschauern von draußen und drinnen; mit einem professionellen Regisseur, einer Produzentin, einem Bühnenbildner und was sonst dazu gehört: Maske, Kostüm, Requisite.
"Grundsätzlich bedienen wir uns eher der klassischen Dramatik bei unserer Stückeauswahl. Wenn wir sagen: Wir machen Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist, dann machen wir das auch. Dann gehen wir erst mal mit der Stückfassung rein, aber dann gucken wir: Was passiert, wenn die Insassen das sprechen, wie macht sich das Ensemble das Stück zu eigen, den Konflikt zu eigen? Oft kombinieren wir das dann noch mit anderen Texten. Und das ist, glaube ich, das Potenzial, was auch das Theater im Gefängnis birgt, dass man die Klassiker auf eine ganz neue Art neu und vielleicht auch modern noch mal, ja, zu Gesicht bekommt."
Beethovens Fünfte im Wechsel mit rappenden Gefangenen als Vorspiel zu Beethovens Oper Fidelio, das war die letzte Aufführung im Frühjahr 2020 in der JVA Tegel, kurz vor dem Lockdown in der Coronapandemie – eine Koproduktion mit dem "education Programm" der Berliner Philharmoniker, ein absolutes Highlight.
Es mehren sich inzwischen in den Reihen der Fachleute die Rufe nach Alternativen zum herkömmlichen Strafvollzug. Einige fordern sogar die Abschaffung der Knäste. Die Historikerin Annelie Ramsbrock kennt diese Stimmen, auch daraus wird sie ihre Schlüsse gezogen haben:
"Dass die Freiheitsstrafe nie abgeschafft wurde, liegt meines Erachtens daran, dass der Strafgedanke nie abgeschafft wurde. Und das ist eine Grundvoraussetzung dafür. Und das wiederum hängt sehr am Selbstverständnis einer Gesellschaft, ob sie strafen möchte oder nicht. Und ich kenne keine Gesellschaft, die nicht strafen möchte. Insofern scheint mir das nahezu etwas Anthropologisches zu sein."

Regie: Cordula Dickmeiß
Ton: Andreas Stoffels
Sprecherin: Annette Wilmes
Redaktion: Carsten Burtke

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