Randall Kenan: „Der Einfall der Geister“

Die Hölle des christlichen Kleinstadtlebens

06:50 Minuten
Das Cover zeigt das Foto eines jungen Mannes, der die Hände zum Gebet gefaltet hat und nach oben blickt. Sein Gesicht ist nicht zu sehen. Darauf Autorenname und Buchtitel.
© Suhrkamp Verlag

Randall Kenan

Übersetzt von Eva Bonné und Aminata Cissé

Der Einfall der GeisterSuhrkamp, Berlin 2022

300 Seiten

24,00 Euro

Von Lara Sielmann · 28.11.2022
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Horace ist schwul, seine Familie aber besteht aus bibeltreuen Baptisten, Nachkommen von Sklaven, die es zu einem gewissen Wohlstand gebracht haben. US-Autor Randall Kenan erzählt vom Aufwachsen in den 80ern zwischen Rassismus und religiösem Fanatismus.
Der junge Horace, Einser-Schüler und Stolz seiner Familie, ist sich unsicher: Hätte er nicht doch besser ein Menschenbaby opfern sollen anstatt einer kleinen Katze für seine magische Verwandlung in einen Vogel? Etwas muss aber doch funktioniert haben bei dem aufwendigen Ritual, an dessen Ende er alle möglichen scheußlichen Zutaten verbrennen musste: Zumindest hört er die Stimme eines Dämons, auch wenn das Federkleid noch auf sich warten lässt.
Diese Stimme in seinem Kopf lenkt ihn nun und so rennt er nackt mitten in der Nacht durch seinen kleinen Heimatort Tims Creek. Bewaffnet mit einem Gewehr sucht er verschiedene Schauplätze seines Lebens auf: Schule, Kirche, das Freilufttheater. Er halluziniert Begegnungen mit früheren Liebhabern, findet sich im Gottesdienst wieder, trifft auf eine weißgeschminkte Version seiner selbst.

Aufwachen in der Baptistengemeinde

Horace ist besessen, ohne Frage, allerdings weniger von einem Dämon als von den dämonischen Erwartungshaltungen und Konventionen der Gesellschaft und seiner Familie: Es sind bibeltreue Menschen, zwischen denen er aufwächst, die jeden Sonntag in die Kirche gehen. Ob sie deshalb auch gute Menschen sind, steht auf einem anderen Blatt.
Seine schwarze, einst versklavte Familie, hat es in den 80er-Jahren, in denen Horace aufwächst, zu einigem Wohlstand und Ansehen gebracht. Große Teile des Landes, auf dem ihre Vorfahren um die Jahrhundertwende noch in Versklavung gelebt haben, gehören mittlerweile ihr. In ihrer Baptistengemeinde, Dreh- und Angelpunkt ihres gesellschaftlichen Miteinanders, sind sie hochgeachtet.
Dass Horace in die Fußstapfen seiner Verwandten zu treten hat, steht außer Frage. Nur kann er sich nicht verorten, sieht in der Bibelauslegung seiner Familie und Gemeinde seine Furcht bestätigt, als Homosexueller nicht normal zu sein.
Allein der Gedanke an seine baldige Verwandlung in einen Vogel – für ihn der Inbegriff von Freiheit – gibt ihm Hoffnung: „Bald wäre er nicht mehr an jene menschengemachten Gesetze und Regeln gebunden, die ihn ständig straucheln ließen. Er war auf den Text eines alten Mystikers gestoßen und dort hatte er die Lösung gefunden.“

Ritt durch die Generationen

Multiperspektivisch erzählt der Autor Randall Kenan diese Geschichte aus den Augen verschiedener Familienmitglieder, reist mühelos durch die Jahrzehnte. So zeichnet er das Bild einer Familie, die viel mehr eine Schicksalsgemeinschaft bildet.
Die Brutalität und das Trauma der Versklavung, unter denen vor allem die Frauen der Familie zu leiden haben, finden sich in jeder Figur wieder – struktureller Rassismus, religiöser Fanatismus und Homophobie sind das Fundament der Geschehnisse.
Ein wilder, ja dämonischer Ritt durch Generationen, meisterhaft erzählt: Das fiktive Örtchen Tims Creek, Schauplatz vieler Geschichten des Autors, wird zum lebendigen Mikrokosmos afroamerikanischen Lebens im Süden der USA im 20. Jahrhundert. 

Endlich übersetzte Weltliteratur

Mit großer Lust und Freude springt Randall Kenan auch zwischen den Genres. Prosaische Szenen unterbricht er mit dramatischen Einschüben, Dialogen, skizzierten Settings. Dazwischen rhythmisch eingeflochten Gospellieder, die von einem guten, Kraft gebenden Gott handeln, der im Kontrast zu dem Gott steht, den Horace in seiner Gemeinde und Familie kennenlernt.
Dass das auch auf Deutsch so wunderbar funktioniert, ist den Übersetzerinnen Eva Bonné und Aminata Cissé zu verdanken.
Mit gerade mal 26 Jahren hat Randall Kenan seinen Debütroman Ende der 1980er-Jahre in Amerika herausgebracht. Zwei Kurzgeschichtenbände folgten mit längeren Abständen sowie nicht-fiktionale  Bücher. Er arbeitete als Professor für Kreatives Schreiben an der Universität von North Carolina, bis er 2020  überraschend starb.
„Der Einfall der Geister“ ist das erste seiner Bücher, das auf Deutsch erscheint. Es kann nur verdeutlichen, wie groß das Desinteresse gegenüber afroamerikanischer Literatur in der Vergangenheit in Deutschland gewesen sein muss, denn dieser Roman ist Weltliteratur.
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