Religionsfreiheit

Schwere Zeiten für Protestanten in der Türkei

08:36 Minuten
Die Silhouette eines Mannes in der assyrisch-protestantischen Kirche, auf den ein Lichtstahlt durch das Fenster fällt
Seit die EU-Beitrittsverhandlungen stocken, macht die Türkei protestantischen Pfarrer das Leben schwer. © Getty Images / Anadolu Agency / Sebnem Coskun
Von Susanne Güsten · 12.07.2020
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Es ist in der Türkei erlaubt, protestantischer Christ oder Christin zu sein. Es wird nur schwieriger, dort als protestantischer Pfarrer zu arbeiten. Denn die meisten Pastoren kommen aus dem Ausland, und der Staat nutzt das Aufenthaltsrecht als Hebel.
Gottesdienst in der protestantischen Kirche von Altintepe auf der asiatischen Seite von Istanbul. Wegen der Coronavirus-Beschränkungen kann die Gemeinde nur per Youtube dabei sein.
Die Predigt hält Pastor Carlos Madrigal, der spanische Seelsorger der Gemeinde. In fließendem Türkisch predigt der Spanier, er ist schon seit 20 Jahren hier Pastor. Womöglich aber nicht mehr lange, fürchtet er:
"Als ich im vergangenen November verreisen wollte, da hat mir der Grenzer am Flughafen einen Code in die Papiere geschrieben: N-82, das bedeutet Sicherheitsrisiko. Ich wusste, was das bedeutet, und habe die Reise sofort abgebrochen und bin umgekehrt."

Ein Vermerk im Pass verhindert die Wiedereinreise

Madrigal kannte den Code N-82, weil damit seit einiger Zeit ausländische Protestanten der Türkei verwiesen werden. Das geschieht meist nicht offen und gesetzlich, sondern mittels dieser Chiffre, die den Protestanten bei der Ausreise in die Papiere gekritzelt wird. Wer so gekennzeichnet ist, dem wird bei der Rückkehr in die Türkei die Einreise verweigert. Warum, wieso und auf welcher Rechtsgrundlage, das fragen die Betroffenen vergeblich. So auch Carlos Madrigal:
"Wir haben dagegen geklagt, und da haben wir erfahren, dass es beim Geheimdienst eine Geheimakte über mich gibt, die wir nicht einsehen dürfen. Nicht einmal mein Anwalt darf sie sehen, nur das Gericht."

Die erste neue Kirche in der Geschichte der Türkei

Der Gemeinde von Pastor Madrigal ist das alles unerklärlich. Schließlich ist dies nicht irgendeine unbekannte Kellerkirche, sondern eine alteingesessene Gemeinde, die mit den Behörden beste Beziehungen unterhält, wie ihr Vorstandsvorsitzender Timur Topuz erzählt.
"Wir haben 1995 mit zehn Gläubigen angefangen, doch die Gemeinde wuchs schnell. Da hat Gott uns zu diesem Gebäude geführt. Weil Kirchen in der Türkei aber nicht als Rechtspersönlichkeit anerkannt werden, haben wir 1999 eine Stiftung gegründet, um dieses Haus zu einer Kirche umzubauen. Dafür brauchten wir eine amtliche Genehmigung, und die haben wir nach langen Verhandlungen mit den Behörden im Jahr 2006 schließlich bekommen. Es war das erste Mal seit Gründung der Republik, dass das erlaubt wurde – unsere Kirche war die erste neue Kirche in der Geschichte der Türkischen Republik."
Porträtaufnahme von Carlos Madrigal.
Weil in der Türkei keine protestantischen Geistlichen ausgebildet werden dürfen, ist die Kirche auf ausländische Pfarrer wie Carlos Madrigal angewiesen.© privat
Pastor Madrigal hat eine Aufenthaltserlaubnis und eine offizielle Arbeitsgenehmigung als Geistlicher. Den spanischen Seelsorger braucht die Gemeinde, weil Kirchen in der Türkei keine Geistlichen ausbilden dürfen und auf ausländische Pastoren angewiesen sind, sagt Topuz.
"Der Staat hat das ja auch genehmigt – nach einer Überprüfung durch den Geheimdienst, wie das üblich ist. Fast 20 Jahre lang galt dieser Mann dem Staat als einwandfrei, und nun wird er plötzlich als Gefahr für die Öffentlichkeit eingestuft. Das zeigt, dass sich das politische Klima in der Türkei gewandelt hat und Kirchen nun als Bedrohung eingestuft werden."

Die Mutter in Spanien darf nicht krank werden

Für die Gemeinde ist diese Erkenntnis belastend. Auf Carlos Madrigal lastet sie auch persönlich schwer, wie der 60-Jährige sagt:
"Meine Mutter ist 86 Jahre alt, meine Schwiegermutter 83. Wenn eine der beiden krank wird, was Gott verhüten möge, dann muss ich nach Spanien – und dann kann ich nicht mehr zurück. Insofern bin ich jetzt tatsächlich gefangen."
Madrigal ist nicht der einzige Protestant, der nach Jahrzehnten in der Türkei nun plötzlich Scherereien bekommt. Dem deutschen Protestanten Hans-Jürgen Louven etwa, der seit 20 Jahren im westtürkischen Mugla lebte, wurde letztes Jahr ohne Angabe von Gründen die Aufenthaltsgenehmigung entzogen. Ähnlich erging es dem kanadischen Protestanten David Byle und seiner deutschen Frau Ulrike, die ebenfalls nach fast 20 Jahren in der Türkei des Landes verwiesen wurden.

Mehr als 100 Ausweisungen, seit der EU-Beitritt stockt

Insgesamt sind nach Zählung der protestantischen Kirchenvereinigung in der Türkei bereits mehr als hundert ausländische Protestanten betroffen, und neuerdings wird auch ausländischen Ehepartnern von türkischen Protestanten die Aufenthaltserlaubnis aberkannt – für die betroffenen Familien ist das eine Tragödie. Die staatliche Absicht dahinter sei klar zu erkennen, meint Topuz – und den Grund kann er sich auch denken:
"Uns ging es gut hier, solange der EU-Beitrittsprozess gut lief. Zum Beispiel haben wir die Genehmigung für unsere Kirche bekommen, als die Türkei noch aussichtsreiche EU-Kandidatin war. Jetzt sind die Beziehungen zur EU nicht mehr so gut, und wir Christen werden wieder als Feinde gesehen. In dem Maße, in dem sich die Türkei vom Westen entfernt, werden wir hier wieder als Bedrohung wahrgenommen."
Das Misstrauen der türkischen Öffentlichkeit gegen Protestanten hat auch historische Gründe, wie Topuz einräumt. Schließlich spielten westliche Missionare im Osmanischen Reich eine durchaus zwiespältige Rolle. So trugen sie bei allen guten Absichten nicht nur zur Spaltung einheimischer Kirchen wie der armenischen und syrisch-orthodoxen Kirche bei, die seither protestantische und katholische Ableger haben. Sie dienten den Westmächten auch als Speerspitze, um als Beschützer der christlichen Minderheiten in die Angelegenheiten des Reiches einzugreifen. Das wirke bis heute nach, sagt Topuz:
"Vor allem im Ersten Weltkrieg, als das Osmanische Reich zerstückelt wurde, kamen viele Missionare hierher – darunter auch etliche, die nicht wirklich Missionare waren, sondern sich nur als solche ausgaben, um als Agenten zu arbeiten. Deshalb wurden bald alle Missionare als Agenten gesehen. Dieses historische Problem gibt es. Wir haben Verständnis dafür, und deshalb benutzen wir niemals das Wort Missionar. Wir sagen, wir sind Diener Gottes."

Ein spirituelles Loch in der Gemeinde

Dabei ist es in der Türkei nicht verboten, zu missionieren: Das Recht, zum Christentum überzutreten, ist von der Verfassung geschützt. Nicht aus religiösen Gründen, sondern aus vielmehr aus nationalistischen Motiven sieht der Staat eine Gefahr in Missionaren, erläutert Topuz: Ankara fürchtet, sie würden vom Westen benutzt, um die Türkei zu unterwandern.
Der Nationalismus ist in der Türkei derzeit stark im Aufwind, seit zwei Jahren ist die Nationalisten-Partei als Koalitionspartnerin an der Regierungsmacht in Ankara. Seither werden die ausländischen Seelsorger einer nach dem anderen ausgewiesen oder nach einem Auslandsbesuch an der Wiedereinreise gehindert. Die Gemeinden werden sich darauf einstellen müssen, fürchtet Topuz:
"Wir werden natürlich weitermachen, aber es wird schwer, weil wir noch immer viel zu wenige einheimische Geistliche haben. Wir sind rund 10.000 Protestanten in der Türkei, bei 50 bis 100 Gläubigen pro Gemeinde brauchen wir rund 150 Pastoren, und davon sind derzeit die Hälfte Ausländer. Das heißt, dass jede zweite Gemeinde dann keinen Pastor mehr hat. Das reißt ein spirituelles Loch."
Die Gemeinde hat geklagt gegen die Einstufung ihres Pastors als Sicherheitsrisiko, doch ihr Antrag auf einstweilige Verfügung wurde abgelehnt. Inzwischen läuft das Hauptverfahren, aber bisher hat noch kein Protestant einen solchen Prozess gewonnen.
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