Religionen und Gemeinschaftsgefühl

Wir gewinnt

13:08 Minuten
Joe Biden wird mit Hand auf der Bibel als 46. Präsident der USA vereidigt. Im Hintergrund ist das Capitol zu sehen.
Gebet für die Corona-Opfer, öffentlicher Schwur auf die Bibel: Bei der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Joe Biden gehörten religiöse Gesten ganz selbstverständlich dazu. © imago images / Andrew Harnik
Thomas Großbölting im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 24.01.2021
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Deutschland habe keine zivilreligiöse Tradition wie die USA, so der Historiker Thomas Großbölting. Der Staat könne jedoch Religionen und andere zivilgesellschaftliche Impulse aktivieren. Aber zugleich bestehe die Gefahr von Parallelwelten.
Anne Françoise Weber: "Auf der Suche nach dem Wir", so lautet das Thema der Denkfabrik des Deutschlandradios in diesem Jahr. Ausgewählt wurde es von Ihnen, von Hörern und Hörerinnen. Wir wollen jetzt fragen, ob und wie Religionen zu diesem gesellschaftlichen Wir beitragen, oder ob sie es doch eher behindern. Darüber möchte ich sprechen mit Thomas Großbölting. Er ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professor an der dortigen Universität. Vor Kurzem hat er ein Buch über die deutsche Wiedervereinigungsgesellschaft vorgelegt, davor unter anderem eine wichtige Studie über Religion und Glauben in Deutschland nach 1945.

Jesuitenpater spricht zur Amtseinführung von Präsident Biden

Herr Großbölting, schauen wir doch zuerst mal in die USA, denn dort hat die Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden am Mittwoch noch mal gezeigt, wie mit einer Religion eine nationale Gemeinschaft beschworen werden kann. Da gab es ja nicht nur die klassische Formel "God bless America", es gab auch einen Schlusssegen, in dem es hieß, durch Gott würden sich die Menschen ihrer Gemeinsamkeiten bewusst. Die USA sind immer ein gutes Beispiel für diese Art von Zivilreligion, aber funktioniert das eigentlich auch dort wirklich? Meinen Sie, von so einem Segen fühlen sich auch Atheistinnen, Muslime, Hindus und andere gleichermaßen angesprochen?
Thomas Großbölting: Das ist eine große Frage, die Sie schon dann beantworten können, wenn Sie sich die näheren Umstände der Inauguration anschauen. Mit Leo O'Donovan hat dort ein Jesuitenpater, ein katholischer Priester, ein Gebet gesprochen, und gleichzeitig hat aber ein Mitglied der Bischofskonferenz, nämlich der Bischof von Los Angeles, durchaus dissoziativ darauf verwiesen, dass mit Joe Biden ein Präsident an die Macht kommt, der sich in Fragen der Abtreibung und des Schwangerschaftsabbruchs ganz anders verhält, als es die katholische Doktrin vorgibt. Also, auch im Land der Zivilreligion, in den USA, gibt es trotz dieser großen Tendenz zur Einigung durchaus spaltende Tendenzen mit Blick auf Religion.
Weber: Und das sogar innerhalb der Glaubensgemeinschaft, der Joe Biden angehört. Was machen aber Menschen, die sich nun gar keinem Gott verpflichtet fühlen und vielleicht auch davon genervt sind, dass der immer angerufen wird? Meinen Sie, für die ist Joe Biden auch der richtige Präsident?
Großbölting: Dadurch, dass zivilreligiöse Symbole und auch zivilreligiöse Sprache in den USA ja darauf anspielt, möglichst abstrakt von einem höchsten Wesen zu sprechen – also der Gottesbegriff, der dort verwendet wird, ist kein christlicher Gottesbegriff, sondern umfasst eben auch alle anderen religiösen Vorstellungen eines höchsten Wesens –, in diesem Sinne kann, glaube ich, jemand, der atheistisch orientiert ist, besser damit leben, als wenn es darum ginge, die Gottheit anzurufen, die in einer konkreten Religionsgemeinschaft verehrt wird.

Keine Sprache für Zivilreligion in Deutschland

Weber: Wie ist das nun, wenn wir auf Deutschland blicken? Könnte Frank-Walter Steinmeier auch so reden, könnte er wie Joe Biden am Mittwoch bei seiner Einführung ein Gebet für alle Opfer der Pandemie anleiten, ist das denkbar?
Großbölting: Er könnte es allenfalls dann machen, wenn er das als persönliche Geste ausweist, um das dann noch mal als Staatsoberhaupt und Bundespräsident zusätzlich zu rahmen. Ich glaube, dass wir in Deutschland keine vergleichbare Tradition haben, die es erlaubt, auf zivilreligiöse Elemente zurückzugreifen. Wir haben weder diesen Symbolkatalog, den man verwenden könnte, noch die Sprache, in der man Zivilreligion dann formulieren kann.
Thomas Großbölting im blauen Jacket blickt leicht von unten freundlich in die Kamera.
Kam von der Uni Münster nach Hamburg: Thomas Großbölting.© Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg / Maike Raap
Weber: Wir hatten aber lange auf jeden Fall wichtige christliche Konfessionen, die auch die Politik und das Nationalgefühl ganz stark geprägt haben. Das hat natürlich abgenommen, und das hat auch noch mal abgenommen mit der Wiedervereinigung, weil wir einen deutschen Staat hatten, in dem genau das komplett weggefallen ist. Ist es damit eigentlich jetzt völlig hinfällig, noch irgendwie an ein christliches gemeinsames Gedankengut oder Kulturgut zu appellieren?
Großbölting: Ja und nein. Nein deshalb, weil wir nach wie vor mit den beiden großen christlichen Konfessionen über 50 Prozent der deutschen Männer und Frauen hier entsprechend auch repräsentiert haben – also, es gibt noch eine Mehrheitsreligion.

Politik soll gesellschaftliche Pluralität repräsentieren

Hinfällig ist es dennoch, trotz dieser Zahlenverhältnisse, die ich genannt habe, weil wir in der Regel davon ausgehen müssen, dass seit den 1970er-Jahren die alte Bundesrepublik, seit der Wiedervereinigung dann das gesamte Deutschland, viel stärker religionsplural wird und Politik und Öffentlichkeit sich angelegen lassen sein muss, genau diese Pluralität auch zu repräsentieren und entsprechend die Menschen zu integrieren. Deswegen wäre ein exklusives religiöses Bekenntnis, das sich nur auf eine Konfession oder auf eine Religionsgemeinschaft bezieht, in jeder Hinsicht kontraproduktiv.

Hören Sie hier einen Beitrag über die interreligiöse Initiative "House of One" in Berlin:
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Weber: Nun gibt es ja Initiativen – das haben wir auch vorhin in der Sendung mit einem Beitrag über das House of One gehört –, die versuchen, religiöse Menschen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen eben zusammenzubringen und da so etwas wie ein interreligiöses Wir zu konstruieren. Funktioniert das auch auf einer nationalen Ebene, oder kann das letztendlich doch nur funktionieren für die, die sich eben irgendwie als gläubig bezeichnen und sozusagen innerhalb dieses Religionsdiskurses bleiben?
Großbölting: In der Regel funktioniert das oder kann das zumindest Impulse geben für diejenigen, die sich religiös selber definieren, um interreligiös voneinander zu lernen. In der Regel bleibt man aber auch dabei stehen, nicht gemeinsame Positionen zu formulieren, sondern in dem Trennenden, was man feststellen kann, da nach Gemeinsamkeiten entsprechend zu suchen. Eine Form oder eine Formel, um damit auch Menschen, die sich dezidiert nicht religiös binden wollen, einzubinden, ist das meines Erachtens nicht.

Humanismus als gemeinsame Grundlage

Weber: Was kann man tun, um die einzubinden? Auf welche gemeinsamen Werte, Quellen kann man sich berufen? Es gibt ja den Staatsrechtler Böckenförde, der immer gesagt hat: Na ja, im Grunde speist sich der Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Also was sind diese Wertegrundlagen, wenn man eben ganz explizit sich nicht auf diese religiösen Grundlagen beziehen will?
Großbölting: Man wird da schnell erkennen können, dass auch in den religiösen Verkündigungen und in den von dort aus formulierten Ethiken und Moralvorstellungen viel von dem ist, was im Humanismus allgemein sich beispielsweise beobachten lässt. So wird man bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, den man nun auch nicht missverstehen darf in seiner Formel, die er geprägt hat – das ist kein Plädoyer dafür, die christlichen Kirchen ganz besonders in den Staat einzubinden, sondern das ist vor allen Dingen ein Plädoyer dafür, dass wir zivilgesellschaftliche Impulse, zivilgesellschaftliche Überzeugungen aktivieren müssen in jeglicher Hinsicht. Dazu gehören die Religionsgemeinschaften ebenso wie andere Gruppierungen, die sich solche Fragen auf die Fahnen schreiben.

In Frankreich drängen Rechtspopulisten Muslime an den Rand

Weber: Das ist aber dann immerhin ein Plädoyer gegen einen starken Laizismus, der die Religion ganz ausblendet als gemeinschaftsstiftendes Element. Da muss man vielleicht auch mit dem Blick auf Frankreich sagen, man beschwört die Republik und alle als gleiche Bürger und Bürgerinnen dieser Republik, aber das hat dann vielleicht doch nicht funktioniert, um Muslime und Musliminnen da einzubinden, denen vielleicht doch ihre religiöse Identität auch sehr wichtig ist?
Großbölting: Die Religionsfreiheit bedeutet ja auf der einen Seite, dass ich Menschen, die nicht religiös gebunden leben wollen, die Freiheit von Religion garantiere, dass ich aber auf der anderen Seite auch den Menschen, die ihre Religion, ihre religiöse Überzeugung leben wollen, auch das ermögliche. Da scheint es in Frankreich tatsächlich große Probleme gegeben zu haben insofern, als dass im Moment gerade rechtspopulistische Kräfte den Laizismus dafür nutzen, Muslime und Muslima mehr und mehr an den Rand der französischen Gesellschaft zu drängen.
Weber: Ein französischer Verteidiger der Laizität würde aber sagen, das ist nicht die Grundidee, sondern die Grundidee ist bei uns natürlich auch in Frankreich Religionsfreiheit, dennoch soll jeder seine Religion eben nur im stillen Kämmerlein ausüben. Aber vielleicht fehlt damit dann doch ein Element von gesellschaftlicher Anerkennung und damit auch gesellschaftlichem Kitt?
Großbölting: Das ist schwierig, jetzt Nationen miteinander zu vergleichen und das Religionsverfassungssystem und die gelebte Beziehung von Staat, Religionsgemeinschaft und Gesellschaften tatsächlich so miteinander in Beziehung zu setzen.

Neuen Religionsgemeinschaften einen Platz verschaffen

Aber wenn ich auf die Bundesrepublik schaue, dann sehe ich, dass wir durchaus mit der hinkenden Trennung von Staat und Kirche auf der einen Seite und gleichzeitig aber den Tendenzen, die stärker auf eine religionsplurale Gesellschaft und deren Anerkennung abzielen, ein durchaus erfolgreiches Modell haben, wo es gelingen kann, auch Religionsgemeinschaften, die relativ neu nach Deutschland hineinkommen, mit zu integrieren und gleichzeitig aber auch denjenigen einen Platz zu verschaffen, die in den traditionellen Religionsgemeinschaften ihren Glauben finden.
Weber: Obwohl es ja doch auch in jeder Religion eigentlich diese Abgrenzungstendenz gibt, also dieser Exklusivitätsanspruch, dieser Glaube, man weiß es eben doch besser als die anderen. Es gibt ja auch Studien, die sagen, besonders religiöse Menschen sind auch tendenziell intoleranter Andersgläubigen und Andersdenkenden gegenüber. Ist es nicht auch wiederum eine Gefahr, sich auf solche Religionen zu stützen?
Großbölting: Ich glaube, dass in vielfacher Hinsicht die Religion nicht anders funktioniert, als dass die jeweiligen Anhängerinnen und Anhänger von letztlich festen Überzeugungen und von festen Wahrheiten ausgehen. In dem Sinne haben Sie völlig recht, hat das auch ein zutiefst dissoziatives Element, was Religionen betrifft. Moderne Religionen werden diesen Anspruch nicht aufgeben können, werden aber sich so nach außen hin geben und nach außen hin agieren müssen, dass sie andere Religionsgemeinschaften tolerieren, Fachleute nennen das dann die Ambiguitätstoleranz. Wir haben dann die Möglichkeit, Widersprüche und andere Darstellungen entsprechend mit in die eigene Praxis zu integrieren und auf diese Art und Weise eben ein Element von Zivilgesellschaft zu werden und eine Stimme in einem großen Chor von zivilgesellschaftlichen Elementen.

Rechtliche Parallelwelten auch in der katholischen Kirche

Weber: Das ist jetzt sozusagen der schön offene Diskurs nach außen, gleichzeitig müssen wir vielleicht auch auf die Praxis schauen und darauf, dass Religionsgemeinschaften sich auch abschließen können. Das ist ein gängiger Vorwurf an Muslime, sie würden da Parallelgesellschaften etablieren und vielleicht sogar ihre islamische Rechtsprechung. Sie haben in einem Interview neulich gesagt, man könnte durchaus auch von rechtlichen Parallelgesellschaften sprechen, wenn man auf die katholische Kirche schaut, ganz konkret bei der Untersuchung von sexualisierter Gewalt – Sie sind ja auch Studienleiter einer Untersuchung über sexuellen Missbrauch im Bistum Münster. Also gibt es auch da eine Tendenz zur Parallelgesellschaft und zur Abschottung in einem eigentlich doch freiheitlich-demokratischen System, in dem das Recht für alle gleich sein sollte?
Großbölting: Ja, die gibt es. Das war eine sehr zugespitzte Bemerkung, die auf Folgendes aufmerksam machen sollte: Wenn man sich Entscheidungsprozesse in Personalkonferenzen anguckt und beobachtet, wie die dort Beteiligten mit Tätern des sexuellen Missbrauchs umgehen, dann sieht man sehr oft, dass vor allen Dingen eine bestimmte Eigenlogik dort ganz tragend war, nämlich der Schutz der Institution auf der einen Seite und der Schutz des Täters auf der anderen Seite, denn derjenige war ja nun auf der einen Seite Mitbruder und auf der anderen Seite eben auch Priester.

Mit Transparenz gegen die Eigenlogik

Den Zölibat wie auch die Priesterweihe zu retten, das ist in vielerlei Hinsicht eine Richtschnur von Handeln in manchem Missbrauchsfall gewesen von katholischer Seite. Da können wir tatsächlich sehen, wie sich gerade in der Führungsspitze eine Parallelwelt entwickelt, die nicht alle Bischöfe, Weihbischöfe und Personalverantwortlichen, die dort beteiligt sind, zu Menschen macht, die das Grundgesetz nicht achten, die als Gesetzesbrecher sozusagen dort zu bezeichnen wären. Aber da schleicht sich eben eine zweite Logik ein, die mit den gesetzlichen Vorgaben wenig zu tun hat.
Weber: Und was kann man tun, um diese Eigenlogik im Namen eines gesellschaftlichen Wir zurückzudrängen?
Großbölting: Es geht um Transparenz, es geht um Offenheit beispielsweise von Entscheidungsprozessen. Man wird darauf achten müssen, dass Machtkonzentrationen in Religionsgemeinschaften nicht überhandnehmen, sodass nicht einzelne Personen oder einzelne Gruppen besonders bevorzugt sind. Und es wird insbesondere im Katholischen auch darum gehen müssen, diese besondere Gruppe der Priester, die nach wie vor in gewisser Weise mit dem Ruch des heiligen Mannes agieren kann, in ihrer Stellung noch mal zu bedenken.
Dieses Problem der so mächtigen und in sich abgeschlossenen Kirchen und Religionsgemeinschaften wird sich dann erledigen, wenn diese sehr starken Positionen, die wir doch über die Geschichte der Bundesrepublik beispielsweise beobachten können, so nach und nach abnehmen werden. Wir haben eine riesig starke Säkularisierung, die in der Tendenz nicht abnehmen, sondern eher zunehmen wird, und dann wird man sehen, ob es den Kirchen gelingt, weltoffen zu agieren oder sich dann doch auf die kleine Herde zurückzuziehen und dann ganz in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Weber: Also sind im Grunde schwache Religionsgemeinschaften die besseren Helfer für die Suche nach dem Wir?
Großbölting: Für die Gesellschaft im Gesamten würde ich das so sehen, ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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