Religion

Der Kirchentag als Spiegel der Gesellschaft

Der Kirchentag endet mit einem großen Abschlussgottesdienst.
Der Kirchentag endet mit einem großen Abschlussgottesdienst. © dpa / picture alliance / Patrick Seeger
Von Philipp Gessler |
Auf dem Evangelischen Kirchentag geht es oft humorlos und verbissen zu, meint Philipp Gessler. Aber er bietet auch Raum für ernsthafte und engagierte Diskussionen über die großen Probleme der Menschheit. Wenn es ihn nicht gäbe, man müsste ihn erfinden.
Wer einem Gast aus dem Ausland erklären will, was Deutschland ist, sollte ihn zu einem Evangelischen Kirchentag schicken. Dort findet der interessierte Fremde alles, was dieses Land, nicht nur im Klischee ausmacht: Eine bewundernswerte Organisationskraft, die es schafft, dass mehr als 100.000 Menschen alle zwei Jahre an über 2500 Veranstaltungen teilnehmen können – wobei fast alles dabei überaus friedlich und wie am Schnürchen läuft. Dann eine Innerlichkeit und Ernsthaftigkeit, die außerhalb Deutschlands eher ein wenig befremdlich wirkt, aber durchaus charmant sein kann. Schließlich ein breites ehrenamtliches Engagement, um das uns viele andere Gesellschaften beneiden mögen – es war völlig gerechtfertigt, dass Bundespräsident Joachim Gauck gerade dieses Engagement in seinem Grußwort zur Eröffnung des Kirchentags besonders gewürdigt hat.
Ja, der Kirchentag ist eine sehr deutsche Veranstaltung, und es ist kein Zufall, dass man Vergleichbares nirgendwo sonst auf der Welt findet. Dafür trifft man auf dem Kirchentag regelmäßig leider auch auf einiges an Verbissenheit, an Humorlosigkeit und an Besserwisserei – und wenn wir ehrlich sind, ist es nicht ganz ungerechtfertigt, dass diese Untugenden jenseits von Oder und Rhein ebenfalls als deutsch gelten. Der Kirchentag ist ein Spiegel unseres Landes, im Guten wie im Schlechten. Wer offene Augen und Ohren hat, kann regelmäßig auf Kirchentagen einiges von der gegenwärtigen Stimmung im Lande erspüren. Was also würde uns der diesjährige Kirchentag in Stuttgart in dieser Hinsicht erzählen?
Es herrschte eine gewisse Selbstzufriedenheit
Eines wohl vor allem: Es herrschte eine gewisse Selbstzufriedenheit in Stuttgart – so ähnlich, wie sie im ganzen Land auch anzutreffen ist. Man findet sich, alles in allem, ganz gut. Ein großer Drang zu Veränderung, gar zu umstürzenden Änderungen des Bestehenden herrscht nicht. Gleichwohl wurde auf dem Kirchentag immer wieder deutlich, dass die Mitte der Gesellschaft, die auf Kirchentagen zuverlässig zu finden ist, dies zu ahnen scheint: Auf Dauer kann dieses Land nicht als eine Insel der Seligen in einem Meer von Kriegen und Konflikten bestehen. Deshalb wurden die großen Probleme der Menschheit in Stuttgart auch verhandelt: ernsthaft, engagiert und durchaus etwas ängstlich.
Tolle Lösungen konnte der Kirchentag dabei auch dieses Jahr nicht präsentieren. Aber als ein Ort der Selbstvergewisserung und Selbstbefragung der deutschen Gesellschaft hat das große Christentreffen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt dann doch wieder funktioniert – als eine Zeitansage, wie das in Kirchenkreisen häufig genannt wird. Das ist die große Stärke des Kirchentags. Wenn es ihn nicht gäbe, man müsste ihn erfinden.
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