Reisereportage

Schwierige Lebensläufe

Eine leere Werbefläche in einem Vorort von Thessaloniki in Griechenland.
Zeichen der Krise: Eine leere Werbefläche in einem Vorort von Thessaloniki in Griechenland. © picture alliance / dpa / Alkis Konstantinidis
Von Rolf Schneider |
Anhand von Biografien aus Makedonien - vor allem aus dem Kleinbürgertum - beschreibt Journalist Landolf Scherzer das heutige Griechenland. Doch der Leser erfährt nichts substanziell neues, es bleibt bei zufälligen Reiseeindrücken.
Das Buch erzählt von zwei Griechenlandaufenthalten. Ein genaues Datum wird nicht angegeben, es dürfte sich um das Frühjahr 2013 gehandelt haben. Der erste Aufenthalt dauerte eine Woche, der zweite etwas länger. Besucht wurde ausschließlich Makedonien, genauer: die Stadt Thessaloniki und der nahe gelegene Urlaubsort Nea Moudania.
"Ich laufe durch das regenwarme, salzige Uferwasser, das die Füße nur behutsam umspielt, und bin – anders zwar, denn ich rechnete mit Sonne – an der griechischen Ägäis angekommen."
Im Folgenden geht es noch um Essen und Trinken, und vor allem geht es um Menschen, um Einheimische wie Fremde.
Der Autor heißt Landolf Scherzer. Der 73-jährige Journalist lebt in Thüringen und wurde gegen Ende der DDR bekannt durch sein Buch "Der Erste". Titelfigur war ein SED-Funktionär, dessen Arbeitsalltag erzählt wird, die mitgelieferten Wirklichkeitsschilderungen gerieten kritisch und bescherten dem Buch ein beträchtliches Publikum. Später, nach der Wiedervereinigung, wiederholte Scherzer das Verfahren mit einem zugereisten CDU-Politiker.
Damals schrieb ein Wochenblatt:
"Scherzer fühlte sich als Verlierer, als einer, dem man Ideologie und Glauben genommen hatte."
Die Enttäuschungen waren jene eines kritischen Linkssozialisten. Gänzlich aufgegeben wurde diese Haltung dann doch nicht.
Griechenland nun. Das Land seufzt seit geraumer Zeit unter einer unerbittlichen Austeritätspolitik, verordnet durch die sogenannte Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission. Das bekannte Ziel ist ein Abbau der enormen Staatsverschuldung, die unbekannten Opfer sind die kleinen Leute. Es herrschen Niedergang, Massenarbeitslosigkeit und Verelendung. Einer der wenigen florierenden Wirtschaftszweige ist der Tourismus, befeuert auch durch attraktive Billigangebote.
Einblicke ins Luxusressort und die Suppenküche
Seinen ersten Aufenthalt buchte Scherzer in einem Luxusressort zu höchst moderatem Preis. Die Erzählung darüber füllt das erste Viertel des Buchs. Vorgestellt werden teils dumme, teils gescheite Mitreisende fast mehr als Einheimische.
Bei seinem zweiten Aufenthalt wohnt der Autor, um dem gewöhnlichen Leben näher zu kommen, in einem Billighotel, das auch Migranten und afrikanische Huren beherbergt. Er besucht ein Gesundheitszentrum für Bedürftige, eine aus der Not geborene Kooperative, eine Suppenküche, eine Buchmesse. Er trifft einen Popen und hat flüchtig-unheimlichen Kontakt mit Neofaschistischen.
Die meisten Griechen, denen er begegnet, entstammen dem Kleinbürgertum, es sind Intellektuelle und kleine Geschäftsleute. Angehörige der korrupten Oberschicht kommen nicht vor, dafür ein paar völlig gescheiterte Existenzen. Das Leben fast aller Porträtierten ist schwierig.
Lesart-Cover: Landolf Scherzer "Stürzt die Götter vom Olymp"
Cover: Landolf Scherzer "Stürzt die Götter vom Olymp"© Aufbau Verlag
"Christos Angelopoulos hat keinen Beruf erlernt. Als er 16 war, half er dem Onkel in dessen Tischlerei. Danach arbeitete er in einer Kartonagenfabrik. Später ging er nach Holland und erntete dort Erdbeeren, Gurken, Tomaten und Salat. Wieder zurück, heiratete er eine Griechin. Sie starb an einer Blutvergiftung, bevor ihr Sohn drei Jahre alt war."
Scherzer erzählt etliche Lebensläufe.
"Christos Angelopoulos erhielt eine Stelle als Hausmeister in einem Kindergarten. Dort konnte er seinen Sohn am Tag unterbringen, abends versorgte die Großmutter das Kind. Nachdem der Sohn eingeschult worden war, bot der Staat dem Vater einen Hausmeisterposten in einer Schule an, wo er 28 Jahre arbeitete. Vor zwei Jahren wurde der Hausmeister bei der ersten Kündigungswelle, die dem Spardiktat folgte, entlassen."
Das Buch zeigt sich ausgesprochen biografienlastig. Freilich, die Schilderungen sind summarisch und stiften kaum Anteilnahme.
Sympathien für die Linkssozialisten
Anders wird von Gastautoren zugeliefert: dem Liedermacher Wecker, dem exilgriechischen Schriftsteller Kutulas und dem deutschen Wirtschaftsjournalisten Kaufmann.
Nun lässt sich von Thessaloniki und Makedonien schwerlich auf das gesamte Griechenland schließen, was Scherzer zwar nicht beansprucht, was er aber auch nicht ausschließt. Seine politische Sympathien liegen erkennbar bei der linkssozialitischen SYRIZA, ein paar ihrer Wähler stellt er vor, sonst weiß er über die Bewegung nicht viel zu sagen. Das Parteiensystem insgesamt wird nicht bedacht.
Auch Thessaloniki bleibt eher konturlos. Ein paar antike Monumente finden Erwähnung, sonst gibt es immer bloß Straßen, Kneipen und Lärm. Kein Wort über den Apostel Paulus. Die große jüdische Tradition der Stadt lässt sich nur erahnen. Der Deportation unter den Nazis wird immerhin gedacht:
"Der Platz, auf dem 9000 Juden in sengender Hitze neun Stunden in Reih und Glied standen, 3000 für die Arbeitslager ausgewählt wurden, von denen 300 schon in den ersten Monaten starben, ist heute der größte bewachte Parkplatz von Thessaloniki. Ich laufe wie ein Schlafwandler über den schattenlosen Platz der Freiheit und beginne automatisch, die ordentlich nebeneinander parkenden Autos zu zählen. Eine Stunde kostet 2,10 Euro. Für zwölf Stunden auf dem Freiheitsplatz bezahlt man 24,40 Euro. Für einen Tag und eine Nacht 39,40 Euro."
Scherzers Deutsch ist eingängig und schmucklos. Der im Untertitel formulierte Anspruch, das andere Griechenland zu zeigen, wird nur ansatzweise erfüllt. Leser, die das Land und seine gegenwärtige Situation kennen, erfahren aus dem Buch nichts substantiell Neues. Als Einführung für Uninformierte ist es auch nicht besonders geeignet. Es liefert die zufälligen Reiseiendrücke eines Journalisten, flott zu lesen, nicht weniger und nicht mehr.

Landolf Scherzer: Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland
Aufbau Verlag, Berlin 2014
320 Seiten, 19,99 Euro