Reisen zu den Minderheiten
Kaum ein deutschsprachiger Autor unserer Tage beherrscht die Kunst der essayistischen Reisereportage so vollendet wie der 54-jährige Österreicher Karl-Markus Gauß. In seinem neuen Buch stellt er drei Minderheiten in Europa vor, von denen eine - die der Assyrer - eine glänzende Zukunft in Schweden zu haben scheint.
Sie lassen ihn nicht los, die Minderheiten. "Die fröhlichen Untergeher von Roana" ist bereits das fünfte Reisebuch, in dem sich Karl-Markus Gauß - eine Art Bruce Chatwin der europäischen Peripherie - auf die Spuren verfolgter, verfemter, vergessener Minoritäten heftet. Es gibt viele Gründe, warum sich Gauß für kleine, oft auch aussterbende Ethnien interessiert.
"Das eine ist, dass ich glaube, dass der Reichtum Europas sicherlich sehr stark damit zusammenhängt, dass wir kein national homogenes Gelände sind, sondern eines, in dem Minderheiten in jedem einzelnen Staat eine Rolle spielen, und dass es mein Wunsch wäre, dass sie eine größere Rolle spielten."
Drei einfühlsame, wie immer brillant geschriebene Reise-Essays versammelt Gaußens neues Buch. Wir folgen dem 54-Jährigen ins Trentino und ins Venetische, in dessen Gebirgsregionen sich das wackere Völkchen der Zimbern bis heute halten konnte - allen Verfolgungen, etwa durch den Mussolini-Faschismus zum Trotz.
"An den Zimbern ist etwas wirklich Skurriles interessant: nämlich dass es weniger Zimbern gibt als Zimbernforscher in aller Welt."
Einige hundert Menschen sprechen das Zimbrische heute noch flüssig in Wort und Schrift. In 20, 30 Jahren wird es auch damit vorbei sein. Was das Zimbrische für Zimbernforscher in aller Welt interessant macht: Es ist die älteste Form des Deutschen, die heute noch gesprochen wird. Wer dem Zimbrischen lauscht, unternimmt gewissermaßen eine Zeitreise zurück ins Althochdeutsche.
In Litauen ist Karl-Markus Gauß auf eine andere faszinierende Minorität gestoßen: auf die Karaimen:
"Die Karaimen sind eine Volksgruppe, von der nicht einmal die Karaimen selbst wissen, wer sie ist."
Eine Frage, über die sich die litauischen Karaimen alles andere als einig sind, lautet etwa: Sind die Karaimen Juden oder nicht?
"Das zum Beispiel ist eine Frage, über die heftig diskutiert wird in der karaimischen Gemeinde. Sie sind von der Herkunft ihrer Religion her zweifelsohne Juden, sie sind aber relativ bald schon aus dem Hauptstrom des Judentums ausgeschieden, manche sagen, im 8. Jahrhundert VOR Christus, andere sagen, im 8. Jahrhundert NACH Christus - das ist immerhin eine Differenz von 1600 Jahren. Ich habe intellektuelle Karaimen getroffen, die haben gesagt: 'Natürlich sind wir Juden, wir sind der verlorene dreizehnte Stamm, von dem immer wieder gesprochen wird'. Andere Karaimen legen größten Wert auf die Feststellung, dass sie selbstverständlich KEINE Juden sind."
Juden oder Nicht-Juden? Man wird's wohl nie erfahren. Auch Karl-Markus Gauß findet in seinem Essay keine überzeugende Antwort auf diese Frage.
Die aus dem Orient stammende Minderheit der "Assyrer" ist die dritte Völkerschaft, der Gauß in seinem Reisebuch ein literarisches Denkmal setzt.
"Die Assyrer sind Angehörige jener uralten christlichen Kirchen, die einerseits noch im Nahen Osten leben - in der Türkei, im Libanon, im Irak und im Iran -, die aber andererseits in einem großen Emigrationsschwung seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Europa ausgewandert sind."
Vor allem Schweden hat sich als eines der Zentren der assyrischen Diaspora etabliert. Weltweit gibt es etwa drei Millionen Assyrer, 70.000 von ihnen leben in Städten wie Göteborg, Örebro oder Södertälje.
"Den Assyrern in Schweden geht es, ich möchte fast sagen: ausgezeichnet. Sie haben etwas geschafft, das keine andere Minorität in Europa jemals geschafft hat, nämlich, dass sie erst in der Diaspora eine Nation zu bilden vermocht haben."
In der Türkei wurden und werden die Assyrer von türkischen UND kurdischen Nationalisten malträtiert. Hunderttausende Assyrer sind seit den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Schweden ausgewandert. Besser hätten sie's nicht treffen können, meint Karl-Markus Gauß:
"Die Assyrer kamen in Schweden in ein Land, in dem es ein Integrationsmodell gegeben hat, das es sonst nirgends gegeben hat. Erstens: Alle Arbeiter, die in den Fabriken von Scania oder Volvo oder wo auch immer angestellt wurden, hatten das Recht, Schwedisch zu lernen, und zwar INNERHALB der Arbeitszeit und ohne dass sie etwas dafür bezahlen mussten. Zweitens: Ihre Kinder hatten in den Schulen ein Anrecht darauf, nicht nur Schwedisch zu lernen, sondern auch ihre Muttersprache zu bewahren, beziehungsweise oft sogar - da sie sie bisweilen gar nicht kannten - erstmals zu lernen."
Und so hat sich in Schweden ein dicht gesponnenes Netz assyrischer Kulturvereine, Fernsehstationen und Fußballklubs gebildet. Der "Assyriska FF" etwa, ein 1971 gegründeter Fußballverein in Södertälje, hat sich von der untersten, der achten Kreisliga durch alle Divisionen des schwedischen Fußballs ganz nach oben gekämpft: in die erste schwedische Profiliga. Trotz des prompten Wiederabstiegs in die zweite Liga 2006 gilt "Assyriska FF" in ganz Schweden als Kultklub für Multi-Kulti-Fans, als eine Art skandinavischer FC St. Pauli, wenn man so will.
Karl-Markus Gauß hält Schweden, was das Thema Integration betrifft, für einen europäischen Musterstaat.
"Im Vergleich zu sämtlichen europäischen Ländern, die ich besucht habe, ist das schwedische Integrationsmodell eindeutig das beste. Es ist ein einzigartiger Fall, dass Menschen aus den Schulen kommen, die erstens vollkommen in die schwedische Gesellschaft integriert sind, und die zweitens gleichzeitig viel mehr über ihre eigene Herkunft wissen, als es ihren Eltern und Großeltern möglich war, die ja in ihrer Heimat noch einer verbotenen Nationalität angehört haben."
Nicht alle verfolgten und verfemten Minderheiten sind zum Aussterben verurteilt, auch das zeigt Karl-Markus Gauß in seinem Buch. Die Geschichte der schwedischen Assyrer zum Beispiel ist eine echte Success-Story - für Assyrer UND für Schweden. Karl-Markus Gauß erweist sich in "Die Untergeher von Roana" einmal mehr als Geschichtenerzähler von Rang. Kaum ein deutschsprachiger Autor unserer Tage beherrscht die Kunst der essayistischen Reisereportage so vollendet wie der 54-jährige Österreicher.
Karl-Markus Gauß: Die fröhlichen Untergeher von Roana
Zsolnay-Verlag, 160 Seiten
"Das eine ist, dass ich glaube, dass der Reichtum Europas sicherlich sehr stark damit zusammenhängt, dass wir kein national homogenes Gelände sind, sondern eines, in dem Minderheiten in jedem einzelnen Staat eine Rolle spielen, und dass es mein Wunsch wäre, dass sie eine größere Rolle spielten."
Drei einfühlsame, wie immer brillant geschriebene Reise-Essays versammelt Gaußens neues Buch. Wir folgen dem 54-Jährigen ins Trentino und ins Venetische, in dessen Gebirgsregionen sich das wackere Völkchen der Zimbern bis heute halten konnte - allen Verfolgungen, etwa durch den Mussolini-Faschismus zum Trotz.
"An den Zimbern ist etwas wirklich Skurriles interessant: nämlich dass es weniger Zimbern gibt als Zimbernforscher in aller Welt."
Einige hundert Menschen sprechen das Zimbrische heute noch flüssig in Wort und Schrift. In 20, 30 Jahren wird es auch damit vorbei sein. Was das Zimbrische für Zimbernforscher in aller Welt interessant macht: Es ist die älteste Form des Deutschen, die heute noch gesprochen wird. Wer dem Zimbrischen lauscht, unternimmt gewissermaßen eine Zeitreise zurück ins Althochdeutsche.
In Litauen ist Karl-Markus Gauß auf eine andere faszinierende Minorität gestoßen: auf die Karaimen:
"Die Karaimen sind eine Volksgruppe, von der nicht einmal die Karaimen selbst wissen, wer sie ist."
Eine Frage, über die sich die litauischen Karaimen alles andere als einig sind, lautet etwa: Sind die Karaimen Juden oder nicht?
"Das zum Beispiel ist eine Frage, über die heftig diskutiert wird in der karaimischen Gemeinde. Sie sind von der Herkunft ihrer Religion her zweifelsohne Juden, sie sind aber relativ bald schon aus dem Hauptstrom des Judentums ausgeschieden, manche sagen, im 8. Jahrhundert VOR Christus, andere sagen, im 8. Jahrhundert NACH Christus - das ist immerhin eine Differenz von 1600 Jahren. Ich habe intellektuelle Karaimen getroffen, die haben gesagt: 'Natürlich sind wir Juden, wir sind der verlorene dreizehnte Stamm, von dem immer wieder gesprochen wird'. Andere Karaimen legen größten Wert auf die Feststellung, dass sie selbstverständlich KEINE Juden sind."
Juden oder Nicht-Juden? Man wird's wohl nie erfahren. Auch Karl-Markus Gauß findet in seinem Essay keine überzeugende Antwort auf diese Frage.
Die aus dem Orient stammende Minderheit der "Assyrer" ist die dritte Völkerschaft, der Gauß in seinem Reisebuch ein literarisches Denkmal setzt.
"Die Assyrer sind Angehörige jener uralten christlichen Kirchen, die einerseits noch im Nahen Osten leben - in der Türkei, im Libanon, im Irak und im Iran -, die aber andererseits in einem großen Emigrationsschwung seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Europa ausgewandert sind."
Vor allem Schweden hat sich als eines der Zentren der assyrischen Diaspora etabliert. Weltweit gibt es etwa drei Millionen Assyrer, 70.000 von ihnen leben in Städten wie Göteborg, Örebro oder Södertälje.
"Den Assyrern in Schweden geht es, ich möchte fast sagen: ausgezeichnet. Sie haben etwas geschafft, das keine andere Minorität in Europa jemals geschafft hat, nämlich, dass sie erst in der Diaspora eine Nation zu bilden vermocht haben."
In der Türkei wurden und werden die Assyrer von türkischen UND kurdischen Nationalisten malträtiert. Hunderttausende Assyrer sind seit den 60er Jahren als Gastarbeiter nach Schweden ausgewandert. Besser hätten sie's nicht treffen können, meint Karl-Markus Gauß:
"Die Assyrer kamen in Schweden in ein Land, in dem es ein Integrationsmodell gegeben hat, das es sonst nirgends gegeben hat. Erstens: Alle Arbeiter, die in den Fabriken von Scania oder Volvo oder wo auch immer angestellt wurden, hatten das Recht, Schwedisch zu lernen, und zwar INNERHALB der Arbeitszeit und ohne dass sie etwas dafür bezahlen mussten. Zweitens: Ihre Kinder hatten in den Schulen ein Anrecht darauf, nicht nur Schwedisch zu lernen, sondern auch ihre Muttersprache zu bewahren, beziehungsweise oft sogar - da sie sie bisweilen gar nicht kannten - erstmals zu lernen."
Und so hat sich in Schweden ein dicht gesponnenes Netz assyrischer Kulturvereine, Fernsehstationen und Fußballklubs gebildet. Der "Assyriska FF" etwa, ein 1971 gegründeter Fußballverein in Södertälje, hat sich von der untersten, der achten Kreisliga durch alle Divisionen des schwedischen Fußballs ganz nach oben gekämpft: in die erste schwedische Profiliga. Trotz des prompten Wiederabstiegs in die zweite Liga 2006 gilt "Assyriska FF" in ganz Schweden als Kultklub für Multi-Kulti-Fans, als eine Art skandinavischer FC St. Pauli, wenn man so will.
Karl-Markus Gauß hält Schweden, was das Thema Integration betrifft, für einen europäischen Musterstaat.
"Im Vergleich zu sämtlichen europäischen Ländern, die ich besucht habe, ist das schwedische Integrationsmodell eindeutig das beste. Es ist ein einzigartiger Fall, dass Menschen aus den Schulen kommen, die erstens vollkommen in die schwedische Gesellschaft integriert sind, und die zweitens gleichzeitig viel mehr über ihre eigene Herkunft wissen, als es ihren Eltern und Großeltern möglich war, die ja in ihrer Heimat noch einer verbotenen Nationalität angehört haben."
Nicht alle verfolgten und verfemten Minderheiten sind zum Aussterben verurteilt, auch das zeigt Karl-Markus Gauß in seinem Buch. Die Geschichte der schwedischen Assyrer zum Beispiel ist eine echte Success-Story - für Assyrer UND für Schweden. Karl-Markus Gauß erweist sich in "Die Untergeher von Roana" einmal mehr als Geschichtenerzähler von Rang. Kaum ein deutschsprachiger Autor unserer Tage beherrscht die Kunst der essayistischen Reisereportage so vollendet wie der 54-jährige Österreicher.
Karl-Markus Gauß: Die fröhlichen Untergeher von Roana
Zsolnay-Verlag, 160 Seiten

Karl-Markus Gauß: "Die fröhlichen Untergeher von Roana" (Coverausschnitt)© Zsolnay-Verlag