Reinhold Vetter: Es geht nicht um Frau Steinbach

Reinhold Vetter im Gespräch mit Joachim Scholl |
Nach Ansicht des Journalisten Reinhold Vetter ist Erika Steinbach für viele Polen ein Symbol dafür, "dass ein Teil der Deutschen die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umdeuten wolle". Auf der politischen Ebene gehe es jedoch gar nicht so sehr um die Person Steinbach, als um inhaltliche Kritik am geplanten Zentrum gegen Vertreibung. Das deutsch-polnische Verhältnis sei ansonsten auf einem guten Niveau.
Scholl: Heute werden in Hamburg Donald Tusk und Angela Merkel zusammentreffen und ein Thema wird ein langer, alter Streit um eine Person - wieder einmal - sein. Erika Steinbach vom Bund der Vertriebenen möchte in den Stiftungsrat des geplanten Zentrums gegen Vertreibung, sie wird das vermutlich nicht schaffen, aber die Debatte hat in den letzten Wochen wieder neues, böses Blut in Polen geschaffen. Am Telefon begrüße ich jetzt Reinhold Vetter, er ist Korrespondent des "Handelsblattes" in Warschau. Guten Morgen!

Reinhold Vetter: Guten Morgen!

Scholl: Wenn man die Diskussion, Herr Vetter, in den polnischen Medien verfolgt, könnte man meinen, Frau Steinbach sei die zentrale Figur der deutschen Politik, was sie - ohne ihr nahetreten zu wollen - nicht ist. Warum erregt sie in Polen immer weiter so großes Aufsehen?

Vetter: Sie haben recht, man hat mitunter den Eindruck, dass Frau Steinbach in Polen viel bekannter ist als in Deutschland. Aber der Punkt ist, dass es eigentlich nicht in erster Linie nur um Frau Steinbach, sondern um dahinterliegende Gründe geht. Es gibt schon beträchtliche Teile der polnischen Gesellschaft, die Frau Steinbach als Symbol dafür sehen, dass eben ein Teil der Deutschen die Geschichte des Zweiten Weltkrieges umdeuten wolle, dass sich die Deutschen heute mehr als Opfer, denn als Täter des Zweiten Weltkriegs sehen, man macht das, wenn man die deutsche Erinnerung an die Vertreibung sieht, an die Bombennächte.

Diese Haltung kann man für überzogen halten und sie ist wohl etwas überzogen, aber es gibt sie, und man sieht glaube ich in Polen noch zu wenig, dass natürlich auch die Deutschen ein Recht darauf haben, sich an solche Dinge zu erinnern. Aber natürlich gibt es auch in Deutschland Unverbesserliche, die dann den Zusammenhang weglassen, nämlich den deutschen Angriffskrieg auf Polen.

Scholl: Nun haben auch polnische, auf Ausgleich bedachte Kommentatoren immer mal versucht, dieses Bild auch zu korrigieren, indem sie herausstellten, dass Frau Steinbach den Bund der Vertriebenen durchaus modernisiert hat und eben nicht diese "SS-Domina" ist, wie sie in polnischen Boulevardmedien schon dargestellt wurde. Es scheint aber alles nicht zu fruchten, man scheint verliebt zu sein ins Bild der "blonden Bestie", auch diese schlimme Metapher wird und wurde ja immer wieder bemüht.

Vetter: Ich glaube schon, dass man da etwas differenzieren muss. Am stärksten wird gegen Frau Steinbach natürlich vom Leder gezogen in den konservativen bis rechten Zeitungen, also in den Medien, die unter dem Einfluss der politischen Strömung der Kaczynskis stehen, aber sie finden das natürlich auch - wenngleich etwas moderater - in der liberaleren Presse, der Gazeta Wyborcza zum Beispiel.

Nur, machen wir uns nichts vor: Gibt es sowas nicht auch in den deutschen Medien? Es gibt da zum Beispiel eine Zeitung in Deutschland von einem deutschen Konzern, die BILD-Zeitung, der gleiche Konzern hat in Polen eine Zeitung, "Fakt", und oft ist es so, dass zu einem ganz bestimmten, gleichen Thema die BILD-Zeitung in Richtung der Polen schießt und Fakt in die Richtung der Deutschen. Dann frage ich mich: Wo ist da noch mehr als Geschäftsinteresse?

Scholl: Welche Rolle spielt denn in dieser Kontroverse - also jetzt jenseits dieser Medienskurrilität, die Sie natürlich zu Recht ansprechen - der ehemalige Außenminister Bartoszewski, 87 Jahre alt, Sonderbeauftragter Warschaus für die Beziehung zu Deutschland, Auschwitz-Überlebender? Vor Jahren noch hat er Erika Steinbach verteidigt, jetzt ist sie für ihn auch nur noch das Symbol der schlechten, deutschen Vergangenheit. Gerade seine harschen Worte wurden in den letzten Wochen permanent zitiert.

Vetter: Daran, dass er sie direkt verteidigt hat, kann ich mich nicht erinnern, aber das mag schon sein. Natürlich - Bartoszewski als Auschwitz-Häftling und so weiter spielt eine sehr wichtige Rolle in dieser Diskussion, und man sollte, glaube ich, auch nicht einen Widerspruch zwischen Bartoszewski und seinem Premier, Donald Tusk, konstruieren. Inhaltlich ziehen sie beide an einem Strang und Tusk hält auch die Hand über Bartoszewski. Andererseits ist der, glaube ich, nicht mehr einverstanden mit den impulsiven Ausbrüchen von Bartoszewski, aber ich glaube, sie wollen beide das Gleiche.

Nur der Punkt ist eben auch der: Auch für Tusk, für den polnischen Premier, geht es nicht in erster Linie um Frau Steinbach, sondern darum, dass er eine gewisse inhaltliche Kritik an dem geplanten, sichtbaren Zeichen hat. Wenn Sie die Dokumente lesen, dann werden Sie dort vor allen Dingen den Satz finden, dass das 20. Jahrhundert eine Epoche der Vertreibung war, und das sieht man in Polen und das sieht auch Herr Tusk so als typisch deutsche Formulierung. Für die Völker im Osten Europas standen andere Phänomene im Vordergrund, der deutsche Angriffskrieg, die Vernichtung der polnischen Intelligenz, natürlich die Vernichtung der Juden, die wirtschaftliche Ausbeutung. Und deswegen kann man in Polen schlecht mit dieser Formulierung leben, das 20. Jahrhundert sei in erster Linie ein Jahrhundert der Vertreibung gewesen.

Scholl: Der Dauerstreit um das Zentrum gegen Vertreibung, wir sind im Gespräch mit Reinhold Vetter, Korrespondent für das "Handelsblatt" in Warschau. Welche Auswirkungen, Herr Vetter, hat Ihrer Einschätzung nach diese Debatte wirklich auf die deutsch-polnischen Beziehungen? Könnte es sein, dass Donald Tusk ähnlich genervt davon ist wie Angela Merkel und eigentlich nur darauf reagieren muss, weil er den Populisten in Polen kein Futter geben will?

Vetter: Meiner Meinung nach, und so sieht das, glaube ich, auch Tusk und so sieht das auch Frau Merkel, ist eigentlich Frau Steinbach zu Unrecht ins Zentrum der deutsch-polnischen Beziehungen geraten, zumindest in den letzten zwei Wochen. Und sie haben natürlich ein Interesse daran, diese deutsch-polnischen Beziehungen auf einem guten Niveau zu halten und sie sind ja auch vielfältiger, viel intensiver, als das der Streit Frau Steinbach darstellt.

Es geht um die Politik, um die Wirtschaft, um die Kultur, um die gesellschaftlichen Beziehungen. Und wenn Sie sich anschauen, was heute bei dem Fischessen zwischen Frau Merkel und Herrn Tusk zur Sprache kommt, dann ist das eben nicht nur Frau Steinbach. Da geht es um den Kampf gegen die Krise, da geht es um die Zukunft der NATO, da geht es um die Frage, ob der polnische Außenminister Sikorski NATO-Generalsekretär werden soll.

Scholl: Man hört immer wieder von Kennern der Verhältnisse: Was in Zeitungen und Medien hin- und hergeschrieben wird, sei die eine Seite, eine ganz andere Sprache sprechen die polnischen Bürger selbst, hier sei das Verhältnis gegenüber den Deutschen weitaus entspannter und jetzt auch gerade diese Debatte bestimmt nicht das zentrale Thema. Welche Erfahrungen machen Sie, Reinhold Vetter, bei Begegnungen mit Polen in Ihrem Bekanntenkreis, in Ihrer Arbeit?

Vetter: Nun gut, das kommt darauf an, mit wem Sie sprechen. Wenn Sie mit älteren Menschen sprechen, die noch den Krieg erlebt haben, denen können sie und soll man ja auch nicht diese Erfahrungen nehmen und die sind immer sehr vorsichtig, sehr misstrauisch, wenn es um solche Themen geht wie Vertreibung, wie Frau Steinbach.

In der jungen Generation sieht das ganz anders aus, die junge Generation interessiert sich dafür, dass man beispielsweise in Deutschland arbeiten kann, dass die deutsche Sprache ein wichtiges Element der Karriere ist. Es gibt vielfältige Beziehungen gerade auf der Ebene der Gesellschaft, da spielt die Geschichte nicht so eine Rolle. Und bei den Menschen mittlerer Generation, dann kommt es halt darauf an, wie gebildet derjenige ist, welchen Beruf er hat, in welchem Teil Polens er lebt und dann differenziert sich das.

Scholl: In einem Zeitungsinterview hat dieser Tage der deutsch-polnische Romancier Artur Becker geäußert, dass die Zeit für einen Neuanfang der deutsch-polnischen Beziehungen sogar ausgezeichnet sei. Teilen Sie diese Ansicht?

Vetter: Grundsätzlich ja, wenn Sie die verschiedenen Elemente der deutsch-polnischen Kooperation sich anschauen, dann stimmt das. Aber es war in der Geschichte, in der Nachkriegsgeschichte immer so, dass dann solche Phänomene wie etwa der Streit um Frau Steinbach hochgespielt worden sind und dann musste man nicht unbedingt wieder bei Null, aber dann musste man wieder mehr oder weniger von vorne anfangen.

Nehmen Sie die zwei Jahre 2005 bis 2007, als beide Kaczynskis an der Macht waren. Da sind ja auch die deutsch-polnischen Beziehungen zumindest auf der politischen Ebene ziemlich weit runtergefahren, und sobald der neue Premier Donald Tusk an der Macht war, hat er eine neue Politik gegenüber Deutschland sich ausgedacht, ausgearbeitet, eingeleitet und dann wurde es ja auch besser, weil es eben diese vielen guten Anknüpfungspunkte für die deutsch-polnischen Beziehungen gibt.

Scholl: Kommen wir noch mal ganz kurz auf das Zentrum gegen Vertreibung zurück. Das war ein interessanter Punkt, den Sie erwähnten, dass also laut Konzept des Denkmals ja irgendwie das Jahrhundert der Vertreibung ausgerufen wird dadurch und dass das ja eben von osteuropäischer Seite eigentlich nicht geteilt wird. Nun hat man ja gedacht, dass dieser Streit eigentlich vorüber sei, dass man eigentlich sich geeinigt hätte, auch auf den Ort, dass es eben in Berlin sein soll, dieses Zentrum. Nun hat man das Gefühl, ja, wenn dieser Streit doch wieder so grundsätzlich wird, dann geht ja auch sozusagen diese Debatte wieder von vorne los. Wie schätzen Sie das ein?

Vetter: Nein, nein. Man muss sich das genau anschauen. Die polnische Regierung und insbesondere Premier Tusk hat eine Entscheidung getroffen. Er hat gesagt in einer bestimmten Situation: Wir werden uns inhaltlich nicht weiter einmischen in die Konzeption des sichtbaren Zeichens. Und das hat er auch gemacht. Das ändert natürlich nichts daran, dass er weiter eine inhaltliche Meinung dazu hat. Aber diese Entscheidung hat er getroffen.

Nur fühlt er sich natürlich jetzt nicht so gut, wenn sich quasi die deutsche Seite nicht daran hält und doch wieder kein klares Wort zur Berufung oder Nichtberufung von Frau Steinbach trifft. Und wenn Sie sich im Umkreis von Tusk in Warschau umhören, dann gehen die eigentlich davon aus, dass sie sagen: Frau Merkel ist bei uns im Wort, dass Frau Steinbach nicht berufen wird und dass diese Entscheidung gefälligst vor den Wahlen in Deutschland stattfindet und nicht im Wahlkampf hin- und hertransportiert wird.
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