"Es hat sich wenig geändert"
Nach Ansicht des Journalisten Reinhold Vetter hat die liberale Regierung Polens unter Premier Donald Tusk wenig auf die Wege gebracht. Zwar lege sie einen deutlich anderen Stil an den Tag als die Regierung der Kaczynski-Zwillinge, dringende Reformen würden aber hinausgezögert. Die Modernisierung Polens finde nicht in staatlichen Institutionen, sondern in Kultur, Wirtschaft und Freizeit statt.
Liane von Billerbeck: An den Anfang des Zweiten Weltkrieges hat man gestern in Polen erinnert, auf der Halbinsel Westerplatte, wo 1939 mit einem deutschen Angriff der Krieg begonnen hatte. Es gebe keine polnische Identität, wenn wir diese Erinnerung verleugnen würden, das sagte Polens Ministerpräsident Donald Tusk.
Kürzlich hat Polen den Vertrag über die Stationierung einer amerikanischen Raketenabwehr unterschrieben, kurz nachdem der Konflikt zwischen Georgien und Russland eskaliert war. Ein Polen, in dem zwei Brüder zwei lange Jahre lang die Politik bestimmt hatten. Mancher Beobachter hält deren 24 Monate, die Zeit der Brüder Lech und Jarosław Kaczynski, für einen ähnlich starken Bruch wie 1989/90.
Wohin Polen jetzt nach dem Regierungswechsel steuert und wie es überhaupt kommen konnte, dass die beiden Kaczynskis an die Macht kamen, das wollen wir jetzt von Reinhold Vetter erfahren. Der Journalist lebt mit kurzen Unterbrechungen seit 1988 in Polen, arbeitet als Korrespondent und hat ein Buch geschrieben: "Wohin steuert Polen?" - eine Art politische Schadensbilanz der Kaczynski-Ära. Reinhold Vetter ist jetzt aus Warschau zugeschaltet. Ich grüße Sie!
Reinhold Vetter: Guten Morgen!
von Billerbeck: Nur einer der Kaczynski-Brüder ist jetzt noch Staatspräsident seit dem Regierungswechsel im Herbst 2007 auf Donald Tusk. Welche Veränderungen sind denn nach der Ära Kaczynski im heutigen Polen spürbar?
Vetter: Ich muss Ihnen sagen als jemand, der in Polen lebt und dem dieses Land irgendwie am Herzen liegt, sehe ich die jüngste Entwicklung mit stark gemischten Gefühlen. Denn sehr viel hat sich für meine Begriffe seit der Parlamentswahl im Herbst 2007 nicht geändert. Natürlich legt die Regierung von Premier Donald Tusk einen anderen politischen Stil an den Tag, sie versucht nicht ständig wie die Kaczynskis Politik und Gesellschaft zu spalten, zu polarisieren, bestimmte Gruppen der Gesellschaft zu verurteilen, auszugrenzen, neue Feindbilder und Fronten aufzubauen. Gerade in der Außenpolitik gibt es Erfolge, wie das neue Standing Polens in EU und NATO beweist.
Aber wenn ich mir die Wirtschafts-, die Finanz-, die Sozial- und die Innenpolitik anschaue, dann muss ich sagen, dass da fast nichts passiert ist. So hat die Regierung zum Beispiel großartige Privatisierungskonzepte für die Wirtschaft, aber keines davon umgesetzt. Polen wartet weiterhin auf eine durchgreifende Reform der öffentlichen Finanzen, die dringend notwendig wäre. Für die Reform der maroden sozialen Systeme gibt es jede Menge Vorschläge, Entwürfe, Projekte, aber keinerlei legislative Entscheidungen.
Und nehmen wir noch ein Beispiel: Infrastrukturmaßnahmen wie der Autobahnbau, gerade im Vorfeld der Fußballeuropameisterschaft 2012, die ja in Polen und in der Ukraine stattfinden soll, kommen nicht richtig voran. Die Bilanz ist sehr gemischt.
von Billerbeck: Warum ist das eigentlich so schwierig, all diese Dinge, die Sie eben aufgezählt haben, in Angriff zu nehmen, wo doch die Ära der Kaczynskis gerade mal zwei Jahre gedauert hat?
Vetter: Na ja, schauen Sie, das Niveau der parlamentarischen Arbeit ist weiterhin sehr niedrig. Ich meine zum Beispiel die juristische und fachliche Qualität von Gesetzen, auch das Niveau der Debatten in den Ausschüssen. Die staatliche Bürokratie auf zentraler, regionaler und lokaler Ebene ist schwerfällig, da hat sich wenig geändert. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen.
Aber die Regierung könnte zum Beispiel die angekündigten Staatsreform auf den Weg bringen. Das hat sie bisher nicht gemacht. Und hinzu kommt, dass der Wahlkampf permanent weitergeht. Premier Tusk will bei der Präsidentschaftswahl 2010 antreten und legt deshalb alle eher schwierigen Reformen auf Eis, weil ihn das eventuell Popularität kosten könnte.
von Billerbeck: Gehen wir noch mal einen Schritt zurück und erinnern uns an den Herbst 2005, als Lech und Jarosław Kaczynski dann an die Macht kamen. So ein Wahlsieg, der kommt ja nicht aus dem Nichts. Auf welcher Ideologie basiert diese Herrschaft und wie haben die das geschafft, an die Macht zu kommen?
Vetter: Ihr Ideal ist, man muss es so sagen, der autoritäre sozialfürsorgliche Obrigkeitsstaat. Wenn wir zum Beispiel die Dreiteilung der Staatsgewalt nehmen, dann wollen sie, die Kaczynskis, und sie haben das ja zum Teil auch schon probiert und gemacht, dass die Exekutive, besonders der Präsident, aber auch die Regierung dominieren und der Legislative, dem Parlament und der Judikative klar die Richtung vorgeben. Jarosław Kaczynski hat als Premier sehr starken politischen Druck auf das polnische Verfassungsgericht ausgeübt.
Sie beanspruchen einen Alleinvertretungsanspruch bei der Interpretation der Geschichte und betreiben in diesem Sinne Geschichtspolitik. Sie wollen der Gesellschaft allgemeine sittliche und moralische Normen vorgeben, die Staat und Justiz dann durchsetzen sollen.
von Billerbeck: Da fragt man sich natürlich, warum hat es nach deren Wahlsieg eigentlich keinen Aufschrei in Polen gegeben. Denn die Kaczynskis haben doch vieles infrage gestellt, was nach 1989 so erreicht worden ist?
Vetter: Na ja, einen Aufschrei hat es nicht gegeben, aber mit der Zeit entwickelte sich schon Opposition und Widerstand. Und wenn Sie die beiden Wahlen von 2005 und 2007 vergleichen, dann war die Wahl 2007,als diese Nationalkonservativ-Partei der Kaczynskis abgewählt worden ist, ein regelrechter Befreiungsschlag. Da sind vor allen Dingen viele junge Menschen zur Wahl gegangen, die einfach von dieser Politik die Nase voll hatten.
Nur, man muss natürlich auch analysieren, warum die beiden, warum die Brüder an die Macht gekommen sind. Man muss sich vor Augen führen, welche gewaltigen Strukturveränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft es in Polen nach 1989 gegeben hat. In den 90er Jahren sind mehr als drei Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. Polen wurde schrittweise in die internationalen Märkte eingegliedert. Und das alles bringt natürlich gewaltige Herausforderungen an die Gesellschaft, die Leute müssen sich umstellen, sie müssen was Neues lernen, sie müssen mobiler werden. Und nicht alle schaffen das oder nicht alle schaffen das schnell.
Und grob gesagt, teilt sich die polnische Gesellschaft weiterhin in drei Gruppen: Das sind etwa 30 Prozent der Gesellschaft, die sich wirklich als Gewinner der neuen Zeiten empfinden, dann eine starke Mittelgruppe von etwa 40 Prozent, die sagen, ja, so manches ist besser geworden, aber immer noch nicht so, wie wir das eigentlich haben wollen.
Und es gibt eine starke Minderheit, die sich als Verlierer empfindet. Und gerade bei dieser Minderheit muss man die Wähler der Kaczynskis suchen. Da sind halt viele Menschen, die nach der starken Hand rufen, nach dem starken Mann, der möglichst alle Probleme für sie regelt.
von Billerbeck: Sie haben es schon gesagt, Herr Vetter, mit der Gewaltenteilung hatten es die Kaczynskis nicht so. Wie tief verankert ist denn nun die Parteiendemokratie in Polen?
Vetter: Alle Umfragen, alle langfristig angelegten Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Polen seit 1989 die parlamentarische Republik für das beste politische System hält. Zeitweise gibt es eine Minderheit, die auch mal stärker wird, die eher für autoritäre Lösungen plädiert. Das haben wir ja in der Zeit der Kaczynskis gesehen.
Aber diese grundsätzliche Befürwortung der parlamentarischen Demokratie korrespondiert in der Regel mit einer ziemlich negativen Beurteilung des Staates generell und konkret der jeweiligen Regierung, des Parlaments und der Parteien. Das hat historische Gründe, aber das hat auch aktuelle Gründe.
Fakt ist, dass die Qualifizierten der Gesellschaft in der Regel nicht in staatlichen Diensten zu finden sind, sondern in privaten Institutionen. Und die Folgen liegen auf der Hand. Fazit: Wenn es in Polen um Demokratie, Pluralismus, Freiheit, Fortschritt geht, dann findet das hauptsächlich nicht in der Politik und nicht in staatlichen Einrichtungen statt, sondern in der Bildung, im Beruf, in der Kultur, in gesellschaftlichen Milieus, in der Wirtschaft, in der Freizeit.
von Billerbeck: Trotzdem müssen diese staatlichen Institutionen natürlich auch demokratisiert werden. Meinen Sie, dass die Regierung Tusk das schaffen kann?
Vetter: Das Problem ist, dass sie eigentlich diese Chance hat, weil sie eben diese Rückendeckung bei den Wählern hat. Aber sie tut zu wenig. Ich habe schon erwähnt, dass die Staatsreform, die sie angekündigt hat, Dezentralisierung und Entbürokratisierung, nicht stattfindet. Es gibt auch seitens dieser Regierung kaum Anstrengungen, wie soll ich sagen, die Bürger inhaltlich, politisch zu mobilisieren, etwa zu Diskussionen über wichtige Reformen im Sozialbereich. Und sie versucht auch nicht, zum Beispiel so ein Thema in die öffentliche Diskussion zu bringen, wie ist es mit privater Verantwortung in Bezug auf Alterssicherung, Gesundheit, Lebensstil…
von Billerbeck: All diese Fragen, die hierzulande ja schon seit Langem diskutiert und auch verhandelt werden.
Vetter: Eben, eben.
von Billerbeck: Eine politische Schadensbilanz nach der Ära der Kaczynskis und Antworten auf die Frage, wohin steuert Polen, die lieferte uns Reinhold Vetter, langjähriger Korrespondent in Warschau mit seinem gleichnamigen Buch, das gerade im Christoph Links Verlag erschienen ist. Ich danke Ihnen, Herr Vetter!
Kürzlich hat Polen den Vertrag über die Stationierung einer amerikanischen Raketenabwehr unterschrieben, kurz nachdem der Konflikt zwischen Georgien und Russland eskaliert war. Ein Polen, in dem zwei Brüder zwei lange Jahre lang die Politik bestimmt hatten. Mancher Beobachter hält deren 24 Monate, die Zeit der Brüder Lech und Jarosław Kaczynski, für einen ähnlich starken Bruch wie 1989/90.
Wohin Polen jetzt nach dem Regierungswechsel steuert und wie es überhaupt kommen konnte, dass die beiden Kaczynskis an die Macht kamen, das wollen wir jetzt von Reinhold Vetter erfahren. Der Journalist lebt mit kurzen Unterbrechungen seit 1988 in Polen, arbeitet als Korrespondent und hat ein Buch geschrieben: "Wohin steuert Polen?" - eine Art politische Schadensbilanz der Kaczynski-Ära. Reinhold Vetter ist jetzt aus Warschau zugeschaltet. Ich grüße Sie!
Reinhold Vetter: Guten Morgen!
von Billerbeck: Nur einer der Kaczynski-Brüder ist jetzt noch Staatspräsident seit dem Regierungswechsel im Herbst 2007 auf Donald Tusk. Welche Veränderungen sind denn nach der Ära Kaczynski im heutigen Polen spürbar?
Vetter: Ich muss Ihnen sagen als jemand, der in Polen lebt und dem dieses Land irgendwie am Herzen liegt, sehe ich die jüngste Entwicklung mit stark gemischten Gefühlen. Denn sehr viel hat sich für meine Begriffe seit der Parlamentswahl im Herbst 2007 nicht geändert. Natürlich legt die Regierung von Premier Donald Tusk einen anderen politischen Stil an den Tag, sie versucht nicht ständig wie die Kaczynskis Politik und Gesellschaft zu spalten, zu polarisieren, bestimmte Gruppen der Gesellschaft zu verurteilen, auszugrenzen, neue Feindbilder und Fronten aufzubauen. Gerade in der Außenpolitik gibt es Erfolge, wie das neue Standing Polens in EU und NATO beweist.
Aber wenn ich mir die Wirtschafts-, die Finanz-, die Sozial- und die Innenpolitik anschaue, dann muss ich sagen, dass da fast nichts passiert ist. So hat die Regierung zum Beispiel großartige Privatisierungskonzepte für die Wirtschaft, aber keines davon umgesetzt. Polen wartet weiterhin auf eine durchgreifende Reform der öffentlichen Finanzen, die dringend notwendig wäre. Für die Reform der maroden sozialen Systeme gibt es jede Menge Vorschläge, Entwürfe, Projekte, aber keinerlei legislative Entscheidungen.
Und nehmen wir noch ein Beispiel: Infrastrukturmaßnahmen wie der Autobahnbau, gerade im Vorfeld der Fußballeuropameisterschaft 2012, die ja in Polen und in der Ukraine stattfinden soll, kommen nicht richtig voran. Die Bilanz ist sehr gemischt.
von Billerbeck: Warum ist das eigentlich so schwierig, all diese Dinge, die Sie eben aufgezählt haben, in Angriff zu nehmen, wo doch die Ära der Kaczynskis gerade mal zwei Jahre gedauert hat?
Vetter: Na ja, schauen Sie, das Niveau der parlamentarischen Arbeit ist weiterhin sehr niedrig. Ich meine zum Beispiel die juristische und fachliche Qualität von Gesetzen, auch das Niveau der Debatten in den Ausschüssen. Die staatliche Bürokratie auf zentraler, regionaler und lokaler Ebene ist schwerfällig, da hat sich wenig geändert. Natürlich geht das nicht von heute auf morgen.
Aber die Regierung könnte zum Beispiel die angekündigten Staatsreform auf den Weg bringen. Das hat sie bisher nicht gemacht. Und hinzu kommt, dass der Wahlkampf permanent weitergeht. Premier Tusk will bei der Präsidentschaftswahl 2010 antreten und legt deshalb alle eher schwierigen Reformen auf Eis, weil ihn das eventuell Popularität kosten könnte.
von Billerbeck: Gehen wir noch mal einen Schritt zurück und erinnern uns an den Herbst 2005, als Lech und Jarosław Kaczynski dann an die Macht kamen. So ein Wahlsieg, der kommt ja nicht aus dem Nichts. Auf welcher Ideologie basiert diese Herrschaft und wie haben die das geschafft, an die Macht zu kommen?
Vetter: Ihr Ideal ist, man muss es so sagen, der autoritäre sozialfürsorgliche Obrigkeitsstaat. Wenn wir zum Beispiel die Dreiteilung der Staatsgewalt nehmen, dann wollen sie, die Kaczynskis, und sie haben das ja zum Teil auch schon probiert und gemacht, dass die Exekutive, besonders der Präsident, aber auch die Regierung dominieren und der Legislative, dem Parlament und der Judikative klar die Richtung vorgeben. Jarosław Kaczynski hat als Premier sehr starken politischen Druck auf das polnische Verfassungsgericht ausgeübt.
Sie beanspruchen einen Alleinvertretungsanspruch bei der Interpretation der Geschichte und betreiben in diesem Sinne Geschichtspolitik. Sie wollen der Gesellschaft allgemeine sittliche und moralische Normen vorgeben, die Staat und Justiz dann durchsetzen sollen.
von Billerbeck: Da fragt man sich natürlich, warum hat es nach deren Wahlsieg eigentlich keinen Aufschrei in Polen gegeben. Denn die Kaczynskis haben doch vieles infrage gestellt, was nach 1989 so erreicht worden ist?
Vetter: Na ja, einen Aufschrei hat es nicht gegeben, aber mit der Zeit entwickelte sich schon Opposition und Widerstand. Und wenn Sie die beiden Wahlen von 2005 und 2007 vergleichen, dann war die Wahl 2007,als diese Nationalkonservativ-Partei der Kaczynskis abgewählt worden ist, ein regelrechter Befreiungsschlag. Da sind vor allen Dingen viele junge Menschen zur Wahl gegangen, die einfach von dieser Politik die Nase voll hatten.
Nur, man muss natürlich auch analysieren, warum die beiden, warum die Brüder an die Macht gekommen sind. Man muss sich vor Augen führen, welche gewaltigen Strukturveränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft es in Polen nach 1989 gegeben hat. In den 90er Jahren sind mehr als drei Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen. Polen wurde schrittweise in die internationalen Märkte eingegliedert. Und das alles bringt natürlich gewaltige Herausforderungen an die Gesellschaft, die Leute müssen sich umstellen, sie müssen was Neues lernen, sie müssen mobiler werden. Und nicht alle schaffen das oder nicht alle schaffen das schnell.
Und grob gesagt, teilt sich die polnische Gesellschaft weiterhin in drei Gruppen: Das sind etwa 30 Prozent der Gesellschaft, die sich wirklich als Gewinner der neuen Zeiten empfinden, dann eine starke Mittelgruppe von etwa 40 Prozent, die sagen, ja, so manches ist besser geworden, aber immer noch nicht so, wie wir das eigentlich haben wollen.
Und es gibt eine starke Minderheit, die sich als Verlierer empfindet. Und gerade bei dieser Minderheit muss man die Wähler der Kaczynskis suchen. Da sind halt viele Menschen, die nach der starken Hand rufen, nach dem starken Mann, der möglichst alle Probleme für sie regelt.
von Billerbeck: Sie haben es schon gesagt, Herr Vetter, mit der Gewaltenteilung hatten es die Kaczynskis nicht so. Wie tief verankert ist denn nun die Parteiendemokratie in Polen?
Vetter: Alle Umfragen, alle langfristig angelegten Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Polen seit 1989 die parlamentarische Republik für das beste politische System hält. Zeitweise gibt es eine Minderheit, die auch mal stärker wird, die eher für autoritäre Lösungen plädiert. Das haben wir ja in der Zeit der Kaczynskis gesehen.
Aber diese grundsätzliche Befürwortung der parlamentarischen Demokratie korrespondiert in der Regel mit einer ziemlich negativen Beurteilung des Staates generell und konkret der jeweiligen Regierung, des Parlaments und der Parteien. Das hat historische Gründe, aber das hat auch aktuelle Gründe.
Fakt ist, dass die Qualifizierten der Gesellschaft in der Regel nicht in staatlichen Diensten zu finden sind, sondern in privaten Institutionen. Und die Folgen liegen auf der Hand. Fazit: Wenn es in Polen um Demokratie, Pluralismus, Freiheit, Fortschritt geht, dann findet das hauptsächlich nicht in der Politik und nicht in staatlichen Einrichtungen statt, sondern in der Bildung, im Beruf, in der Kultur, in gesellschaftlichen Milieus, in der Wirtschaft, in der Freizeit.
von Billerbeck: Trotzdem müssen diese staatlichen Institutionen natürlich auch demokratisiert werden. Meinen Sie, dass die Regierung Tusk das schaffen kann?
Vetter: Das Problem ist, dass sie eigentlich diese Chance hat, weil sie eben diese Rückendeckung bei den Wählern hat. Aber sie tut zu wenig. Ich habe schon erwähnt, dass die Staatsreform, die sie angekündigt hat, Dezentralisierung und Entbürokratisierung, nicht stattfindet. Es gibt auch seitens dieser Regierung kaum Anstrengungen, wie soll ich sagen, die Bürger inhaltlich, politisch zu mobilisieren, etwa zu Diskussionen über wichtige Reformen im Sozialbereich. Und sie versucht auch nicht, zum Beispiel so ein Thema in die öffentliche Diskussion zu bringen, wie ist es mit privater Verantwortung in Bezug auf Alterssicherung, Gesundheit, Lebensstil…
von Billerbeck: All diese Fragen, die hierzulande ja schon seit Langem diskutiert und auch verhandelt werden.
Vetter: Eben, eben.
von Billerbeck: Eine politische Schadensbilanz nach der Ära der Kaczynskis und Antworten auf die Frage, wohin steuert Polen, die lieferte uns Reinhold Vetter, langjähriger Korrespondent in Warschau mit seinem gleichnamigen Buch, das gerade im Christoph Links Verlag erschienen ist. Ich danke Ihnen, Herr Vetter!